Auf dem Friedhof
Geschichte von den Erinnerungen – Gedanken über Herbstblätter und Erinnerungen an Tante Hanna mit dem Himbeersoßenfleck, den keiner je vergessen wird
Es ist ein freundlicher Spätherbsttag. Eva und Felix haben Onkel Richard versprochen, ihn auf den Friedhof zu Tante Hannas Grab zu begleiten. In der Nacht hat es gestürmt, und viele gelbe Blätter liegen auf den Wegen. Nur mühsam schieben Eva und Felix Onkel Richard in seinem Rollstuhl durch diese Blätterflut.
„Es riecht nach Herbst“, sagt Onkel Richard und atmet tief durch. „Ich finde, der Herbst duftet herrlich. Würzig und köstlich herb.“
„Das sind die toten Blätter“, meint Felix und kickt einen Blätterhaufen vor sich her. „Die riechen ein bisschen faul. Wie totes Zeugs eben so riecht.“
Eva ist entsetzt. „Du meinst, der Tod riecht gut?“
Erstaunt sieht Onkel Richard Eva an. „Der Herbst riecht gut“, sagt er zögernd. „Aber der Tod? Na, ich weiß nicht.“
„Aber wenn doch der Herbst nach toten Blättern riecht“, meint Eva.
„Da hast du Recht. Tote Blätter riechen irgendwie gut.“
„Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, das mit dem Totsein?“, überlegt Eva.
„Also, ich möchte noch lange nicht tot sein“, ruft Felix.
„Das möchte niemand“, sagt Onkel Richard, „aber irgendwann muss jeder sterben. So wie diese Blätter.“
„Ich glaube“, meint Eva, „die Blätter finden das Sterben gar nicht schlimm, denn sonst würden sie nicht so gut riechen.“
„Außerdem wissen sie, dass im Frühling wieder neue nachwachsen werden“, ergänzt Felix.
Eva nickt. „Die haben es gut, die Blätter! Aber wie ist es mit den Menschen? Die wachsen nicht neu nach im Frühling.“
„Auch die Menschen leben weiter. Irgendwie, jeder auf seine Weise“, sagt Onkel Richard.
Sie sind vor Tante Hannas Grab angelangt. Vorsichtig beginnt Eva, die Blätter vom Grab herunterzufegen.
„Wie leben die Menschen denn weiter?“, fragt sie.
„In ihren Kindern, in der Erinnerung, vielleicht auch in Dingen, die sie im Leben geschaffen haben.“
„Tante Hanna auch?“
Da lächelt Onkel Richard. „Wären wir sonst heute hier? Tante Hanna ist jeden Tag bei mir. In meinen Gedanken. Manchmal spreche ich sogar mit ihr, und ich glaube, sie hört mir zu. Ja, und da sind so viele Dinge, die an sie erinnern. Die Fotografien, die Bücher, die Tischdecke, die sie gestickt hat, die Idee mit der Gartenbank …“
„… ja“, ruft Eva aufgeregt, „und das Herz mit dem Namen ‘Hanna’, das du in den Nussbaum geritzt hast …“
„… und der Himbeersoßenfleck“, kichert Felix. „Wisst ihr noch, wie Tante Hanna gestolpert ist und den Teppich mit der Himbeersoße bekleckert hat. Was haben wir gelacht!“
Eva und Onkel Richard müssen lachen, als sie daran denken. „Und am allermeisten“, ruft Onkel Richard, „hat Tante Hanna selbst darüber gelacht. ‘Was bin ich doch für ein Schussel!’ hat sie gesagt.“
„Ja, das war lustig.“ Eva und Felix lachen, und irgendwie ist es, als wäre Tante Hanna bei ihnen und lachte mit. Da wird Eva auf einmal sehr ernst.
„Ich glaube“, sagt sie leise, „eben hat sie mitgelacht. Ich habe sie gehört. Ganz bestimmt.“
„Ich auch“, sagt Onkel Richard leise, und eine Träne rollt über seine Backe. „Und jetzt lasst mich ein paar Minuten alleine hier mit Tante Hanna, ja?“
© Elke Bräunling
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Auf dem Friedhof, Bildquelle © Pexels/pixabay
Schöne Geschichte. Ich mag es, wenn die Natur das Grab einnimmt, dennoch sollte es gepflegt werden und ein paar Pflanzen sind auch schön. Deswegen lasse ich das Grab von meinem Vater immer bepflanzen.