Die Sonne und das Blatt
Sommermärchen – Warum das Blatt mit der Sonne in diesem späten Sommer nicht recht einverstanden
“Hallo Sonne!”, sagte das Blatt. “Ich freue mich, dass du mich jeden Tag für ein Weilchen besuchst. Aber du tust mir nicht gut. Deine Strahlen verbrennen meine Haut. Sie machen sie trocken, braun und dünn.”
“Es ist später Sommer”, erwiderte die Sonne mit einem Schmunzeln. “Es ist meine beste Zeit.”
“Meine auch!”, rief das Blatt. Nein, es schrie es fast. “Es ist auch meine beste Zeit. Meine letzte Lebenszeit. Und die möchte ich genießen, möchte sie leben. Frei und ohne Verletzungen. Also bitte, zieh weiter, Sonne! Lass ab von mir. Du tust mir weh.”
“Eigentlich bin ich es gewohnt, dass man mich liebevoll Willkommen heißt und meine Strahlenkinder freudig aufnimmt.”
In der Stimme der Sonne lag so etwas wie erschrockene Verwunderung. “Meinst du nicht, auch wir könnten uns arrangieren und Freunde sein?”
Besänftigend legte sie ihre Sonnenarme auf das Blatt. Es war, als wolle sie es in herziger Verbundenheit umarmen. All ihre Zuneigung und Wärme legte die Sonne, die von allen geliebt werden und ihre Liebe auch großzügig weiter geben wollte, in diese Umarmung. Ganz warm ums Herz wurde ihr bei dieser Umarmung.
Auch dem Blatt war warm geworden. Glühend warm. Es schwitzte so sehr, dass sich seine Blattadern zusammenzogen und röteten. Gar nicht gut fühlte sich das an. Das Blatt war zu Tode erschrocken.
“Halt ein!”, kreischte es los. Schrill und laut. “Du bringst meine zarte Haut zum Glühen. Ach, was sage ich: Zum Brennen bringst du sie. Hilfe! Ich brenne. Ich verbrenne. Verschwinde, Sonne! Ich brauche deine Freundschaft nicht, Sonne! Hörst du?”
Da erschrak die Sonne. Sie war auch ein bisschen gekränkt.
“Sei nicht so dünnhäutig!”, murmelte sie und zog weiter.
Sie war nun nicht mehr ganz so gut gelaunt und beschloss, sich zurückzuziehen. Es war eben nicht einfach mit der Freundschaft – und auch nicht mit der Liebe. Ihre Zeit in diesem Spätsommer hier am Nordhang des Berges war sowieso vorüber. Neue Ziele warteten auf sie. Im Süden.
© Elke Bräunling
Sonnenblätter, Bildquelle © cablemarder/pixabay