Der geheimnisvolle Adventskranz

Adventsgeschichte für Kinder – Manche Tannenkränze sind “Zauberkränze” und das kann nur der Wald beantworten

Überall auf dem Waldweg lagen Tannenzweige. Gestern nämlich war es im Wald laut zugegangen. Holzfäller waren da gewesen. Mit kreischenden Sägen hatten sie die Tannen am Hang gefällt und auf einen Lastwagen geworfen. “Für Weihnachten”, hatte einer gesagt. “Mit dem Grünzeug lässt sich viel Geld verdienen”, hatte ein anderer gemeint. Sie hatten sich vergnügt die Hände gerieben und waren mit ihrem Laster davon gebrummt. Die Tannenzweige hatten sie einfach liegen gelassen. Die brachten nämlich nicht viel Geld ein.
Im Wald war es wieder ruhig geworden. Wenn man aber genauer hinhörte, vernahm man leises Wimmern bei den Zweigen. Dort hatten sich die Waldmännlein versammelt und weinten. Mit jedem Baum, der sterben musste, schrumpften sie nämlich ein bisschen mehr vor Kummer. Sie waren schon so klein, dass man sie mit bloßem Auge nicht mehr erkennen konnte. Das war schlimm, denn mit ihrer Größe verloren sie auch ihre Zauberkraft.
“So kann es nicht weiter gehen!”, sagte das Oberwaldmännlein. “Immer mehr Bäume sterben. Irgendwann sind alle kaputt, und auch uns wird es nicht mehr geben.”
Die Waldmännlein erschraken. “Wer passt dann auf den Wald auf?”, fragten sie.
“Niemand”, antwortete das Oberwaldmännlein grimmig. “Den wird es nämlich auch nicht mehr geben.”
“Wie schrecklich!”
„Oje oje oje!”
Nun waren sie noch betrübter als zuvor, und am liebsten hätten sie sich für immer unter die Tannenzweige verkrochen.
“Wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken”, befahl das Oberwaldmännlein und zog energisch einige seiner Untertanen wieder unter den Zweigen hervor.
“Aber was können wir tun?”, fragte ein Waldmännlein.
“Wir machen eine Konferenz”, schlug ein anderes vor. “Alle Waldmännlein der Welt treffen sich hier in unserem Wald!”
Das Oberwaldmännlein, das ein sehr weises Oberwaldmännlein war, schüttelte den Kopf. “Konferenzen hat es genug gegeben. Reden allein genügt nicht. Wir müssen etwas tun! Mit all der Zauberkraft, die uns noch verblieben ist.”
“Davon ist nicht mehr viel übrig”, rief ein Männlein.
“Ich spüre fast nichts mehr…”, sagte ein anderes kläglich.
“Und ich habe gar keine Zauberkraft mehr”, jammerte ein drittes.
“Ich auch nicht…” “Ich auch nicht…!”
Aufgeregt hallten ihre Stimmen durch den Wald. Es ging so laut zu, dass die Waldfee vor Schreck beinahe von der hohen Tanne, in deren Wipfel sie gerne zu sitzen und zu träumen pflegte, gefallen wäre. Was war los? Wozu dieser Lärm?
“Die Waldmännlein!”, murmelte die Waldfee. “Es scheint, als brauchten sie Hilfe.”
Sie drehte am obersten Knopf ihres lindgrünsilber gestreiften Waldfeengewandes und sang:
“Über Gipfel, Baumeswipfel, trag mich fort zu jenem Ort!”
Schon landete sie inmitten der Waldmännleinschar.
Aufgeregt umringten die Waldmännlein die gute Fee und plapperten wild auf sie ein, bis das Oberwaldmännlein ein lautes “Ruhe!” brüllte und sich vor dem Gast verneigte:
“Ein herzliches Willkommen, verehrte Frau Waldfee!”, schnarrte es ehrerbietig. “Dein Besuch freut uns zutiefst.”
Die Waldfee lächelte. “Ihr wart nicht zu überhören, ihr lieben Geister.” Dann wurde sie ernst: “Euer Problem ist mir bekannt. Es ist auch das meine. Nur ein Wunder kann uns retten.”
“Ein Wunder?”, riefen die Waldmännlein. “Was für ein Wunder?”
“Ein Wunder, das uns unsere Zauberkräfte zurückgewinnen lässt”, antwortete die Waldfee. “Aber wir müssen etwas dafür tun. Seid ihr bereit?”
“Jaaa!” riefen die Waldmännlein in einem vielstimmigen Chor.
“Gut”, sagte die Waldfee. “Fangt gleich damit an: Bindet aus diesen Zweigen einen Kranz und packt euren Zauber hinein! Den Kranz legt auf die Bank am Waldrand und wünscht euch ganz stark, dass er in gute Menschenhände gelangt! Er darf nie verwelken, und das wird er auch nicht, solange sich einmal am Tag ein Mensch über ihn freut. Mit jedem Tag, an dem der Kranz nach frischem Grün duftet, gewinnt ihr ein Stück eurer Zauberkräfte zurück.”
“Oh je oje”, jammerte ein Waldmännlein. “Ob sich Menschen an einem Kranz noch freuen können?”
“Das wäre wirklich ein Wunder”, murmelte ein anderes.”
“Wir müssen es versuchen!”, rief das Oberwaldmännlein energisch. “Und wir werden unser Bestes tun.” Es klatschte in die Hände und rief: “Eins, zwei, drei, seid dabei, eure Kräfte, gebt sie frei, hurtig, eilig, blitzgeschwind für das Zauberkranzgebind’!”
Sogleich wimmelte es auf dem Waldweg von Waldmännlein, die den Kranz banden. Und jedes verbarg all seine Zauberkräfte, die es noch besaß, im dichten Tannengeflecht.

Am nächsten Morgen lag ein Tannenkranz auf der Bank am Waldrand. Die Menschen gingen achtlos an ihm vorüber. Manche warfen einen neugierigen Blick auf die Bank, doch sie dachten sich nichts dabei. Beim Gärtner gab es schönere Kränze zu kaufen. Mit Kerzen, Schleifen, Silberflimmmer und Goldperlen.
Auch Jana hatte den Kranz auf dem Weg zur Schule gesehen. Ihr war, als hätte er “Nimm-mich-mit!” gerufen. Immer wieder musste sie daran denken, und als sie auf dem Heimweg den Kranz noch immer daliegen sah, nahm sie ihn mit, schmückte ihn mit Kerzen und Äpfeln und stellte ihn auf den Küchentisch. Das sah hübsch aus.
Papa und Mama und ihre Brüder freuten sich, als sie Janas Überraschungskranz sahen, und an diesem Abend blieben sie lange in der Küche sitzen, blickten ins Kerzenlicht und erzählten einander dies und das. Das hatten sie lange nicht mehr getan. Einfach dasitzen und reden.
“Das sollten wir öfter tun”, meinte Mama. “Es ist so gemütlich.”
Auch in den nächsten Tagen saßen sie oft in der Küche. Es war eine schöne Vorweihnachtszeit.
“Das ist ein Zauberkranz”, sagte Papa einmal scherzhaft. “Er zaubert euch vom Fernseher weg.”
“Und dich vom Computer”, rief Jana vergnügt.
Der Advent ging vorüber, und an Heiligabend hatte der Kranz noch keine Nadel verloren. Bis tief in den Januar hinein stand er frisch und grün und duftig in der Küche.
“Jetzt ist aber Schluss”, sagte Mama eines Tages. “Am Ende steht euer Kranz noch an Fasching hier.”
“Bitte nicht wegwerfen!”, bettelten die Kinder. “Er ist noch nicht verwelkt.”
So nahm Mama den Kranz und hängte ihn an die Haustür. “Früher”, erzählte sie, “hatten die Leute immer Tannengrün vor der Tür hängen. Damit glaubten sie, böse Geister vom Haus fernzuhalten.”
“Das tut unser Kranz bestimmt auch”, meinte Jana.
So hing der Zauberkranz das ganze Jahr an der Haustür, und viele Male am Tag freute sich die Familie an seinem Anblick. Ja, und in der nächsten Adventszeit stand er wieder in der Küche, geschmückt mit Kerzen und roten Äpfelchen.
Übrigens: Er lebt noch immer, der Kranz. Bei Jana und ihrer Familie.
Die Waldmännlein gibt es auch noch. Von Tag zu Tag erlangen sie ihre Zauberkräfte ein Stück zurück, doch genauso schnell verlieren sie sie auch wieder. Es sterben nämlich immer mehr Bäume, und die Waldmännlein verbringen ihre Zeit zumeist in tiefer Trauer. Dann aber denken sie an den Zauberkranz. Solange er lebt, ist Hoffnung da…, ja, und vielleicht wird ja doch noch einmal alles wieder gut. Irgendwann…

© Elke Bräunling

Eine sehr viel kürzere Fassung dieses Adventsmärchens findest du hier: Der “verzauberte” Kranz

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Der Zauberkranz, Bildquelle © StockSnap/pixabay

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