Es ist viel zu hell zum Schlafen

Mittsommergeschichte – Opa erzählt vom Mittsommer (nach einer estnischen Sage)

Im Sommer ist es abends lange hell. Das gefällt Pia und Pit, und sie haben keine Lust, an Sommerabenden früh ins Bett zu gehen. Jeden Abend aufs Neue betteln sie, noch ein bisschen aufbleiben zu dürfen. Zu Schulzeiten aber klingelt morgens um sieben der Wecker, und wenn Pia und Pit da fit sein wollen, müssen sie abends rechtzeitig zu Bett gehen.
“Was würdet ihr tun, wenn ihr in Nordeuropa leben würdet?“, sagt Mama eines Tages entnervt.
„Warum?“, fragt Pia.
„Na ja!“, meint Mama, „in den nordischen Länden bleiben die Nächte im Sommer fast ganz hell.“
Pia und Pit staunen. “Müssen die Kinder dort nicht ins Bett?”
Mama lacht. “Die gehen freiwillig, denn auch sie müssen morgens früh aufstehen.“
„Außerdem“, meint Papa, „wird jeder irgendwann einmal müde, auch wenn es taghell draußen ist.”
“Das könnte mir nicht passieren”, meint Pit.
Pia nickt. “Mir schon dreimal nicht.”
“Dann lasst euch von Opa doch einmal die Geschichte von Koit und Hämarik erzählen“, schlägt Mama vor.
“Koit und Hämarik?“, fragt Pia. “Das klingt so ausländisch!“
„Es ist eine estnische Sage!“, erklärt Mama.
“Und Opa stammt auch aus Estland, stimmt´s?” ruft Pit.
Mama nickt. “Stimmt. Er wird euch die Geschichte sicher gerne erzählen.”
“Toll”, rufen Pia und Pit, und ehe Mama die beiden ins Bett packen kann, stürmen sie auf die Terrasse, wo Opa gemütlich im Schaukelstuhl dem Sonnenuntergang zuschaut.
“Erzählst du uns das Märchen von diesem Koit…?“, ruft Pia, und Pit ergänzt: “…und Hämarik?”
Opa lacht. “Gerne. Aber sagt, müsst ihr nicht längst schlafen?”
“Erst wenn du uns die Geschichte erzählt hast”, sagt Pia.
“Und wenn es dunkel geworden ist”, meint Pit.
“Ihr Schlaumeier”, sagt Opa und lacht wieder.
Dann setzt sich Pia auf Opas rechtes und Pit auf Opas linkes Bein und lauschen der Geschichte von Koit und Hämarik:
„Die Johannisnacht“, erzählt Opa, „ist die kürzeste Nacht im Jahr. In den Ländern Nordeuropas ist sie eine ganz besondere Nacht: In dieser Nacht nämlich geht die Sonne nicht unter, und das feiern die Leute mit einem großen Fest. Sie essen, trinken und tanzen um das Johannifeuer; manche springen auch darüber. Danach machen sich in meiner estnischen Heimat Verliebte auf die Suche nach der Blüte Sönajalg. Wer sie findet, heißt es, wird für immer im Leben Glück haben. Doch bis heute hat niemand je diese wundersame Blüte gesehen…!
Glücklich sind in dieser Nacht aber zwei andere, nämlich Koit und Hämarik, besser bekannt als Morgenrot und Abendrot. Die beiden, heißt es, sind ein Liebespaar, das vor langer Zeit auseinander gerissen wurde. In der Johanninacht aber, in der die Sonne nicht untergeht, treffen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang aufeinander, ja, und dabei können Koit und Hämarik einander einmal im Jahr berühren. Sie küssen sich und malen vor lauter Glück die schönsten Farben an den Himmel. Der schimmert dann bunt wie ein Regenbogen in goldgelben, roten, rosa, lila, blauen und hellgrünen Farben. Wunderschön sieht das aus, und die Menschen halten einander an den Händen und fühlen sich sehr, sehr glücklich beim Anblick der beiden Liebenden Koit und Hämarik, die sich nur einmal im Jahr umarmen dürfen.“
Opa schweigt, und Pit sagt staunend: “Toll. Das mit der Liebe von Morgenrot und Abendrot möchte ich gerne sehen.” Voller Sehnsucht blickt er in den Himmel, an dem inzwischen die ersten Sterne funkeln.
“Und ich”, gähnt Pia, “möchte diese Wunderblume finden. Wenn ich nur nicht so müde wäre…!”
Da müssen alle lachen, und der Zauber des Abends ist wie weggeblasen.
„Ja”, sagt Papa, “gehen wir schlafen! Es ist dunkel geworden.”

© Elke Bräunling

Hier findest du Geschichten und Märchen zu den hellen Nächten der Sommermitte:
Als die Junifee die Nächte heller machte
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Als Papa Jule einen Stern schenkte – Eine Sommergeschichte mit Sternen und Glühwürmchen
Glühwürmchen, Glühwürmchen, flimmere … – Eine Sommergeschichte
Glühwürmchennächte – Gedicht
Sonnwendfest und Mittsommernächte


Sommerabend, Bildquelle © security/pixabay

 

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