Max, das Warten und das Engelshaar
Heiligabendgeschichte für Kinder – Ein Abenteuer am Nachmittag von Heiligbend
Es ist Heiligabend und es ist Nachmittag, und Max langweilt sich. Mindestens dreiundzwanzig Mal hat er heute schon ‚Wann kommt der Weihnachtsmann?‘ gefragt, und seine Eltern haben immer wieder ‚Wenn-es-dunkel-ist!‘ geantwortet.
Max seufzt. Er sitzt am Fenster und denkt an seinen Wunschzettel mit all den Wünschen. Er freut sich so sehr auf die Bescherung.
„Werde dunkel!“, murmelt er, während er in den Garten hinaus starrt. Nebelfetzen hängen zwischen den kahlen, knorrigen Ästen der Bäume. Es sieht gruselig aus. Max muss an die Gespenster aus dem Bilderbuch denken. Sie ähneln diesen Nebelbäumen. Aber vielleicht sind das da draußen gar keine Bäume, sondern Geister? Baumgeister oder Nebelmonster, die sich heimtückisch dem Haus nähern?
Max starrt auf die Bäume. Fängt da nicht einer schon mit dem Spuk an? Der Geist dort, wo sonst der Kirschbaum steht, hat sich bewegt. Bestimmt. Und jetzt streckt der Kirschbaumgeist seine dürren Nebelarme nach ihm aus. Max sieht es genau. Der Geist hat sich bewegt und blickt nun sehr unfreundlich zu ihm herüber.
Die warten, bis es dunkel ist, denkt Max. Dann kommen sie und spuken. Gemein. Wo doch heute Weihnachten ist! Er beginnt zu frieren, und in seinem Bauch kribbelt es. Schnell zieht er den Vorhang zu. Dann holt er seinen Teddy Bibu und verbirgt das Gesicht in dessen Pelz.
„Feigling!“, brummt Bibu. „Du willst ein tapferer Held sein, der sich vor nichts fürchtet, schon gar nicht vor Geistern?“
„Aber die Geister da draußen sind besonders gruselig!“, flüstert Max.
„Baumgeister und Nebelgeister sind nicht gruselig“, meint Bibu, und Max beginnt sich zu schämen. Der Bär hat recht. Ein tapferer Held hat keine Angst vor Nebelgeistern! Max linst durch die Vorhangritze.
„Sieh selbst!“, sagt er zu Bibu. „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Geister stehen im Garten. Sieben grausige Geister.“
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Bäume“, zählt Bibu. „Kahle Winterbäume im Nebel. In diesem Garten stehen schon immer sieben Bäume. Seit wir hier wohnen.“
Max fällt ein Stein vom Herzen. „Bist du sicher?“
„Ganz sicher“, sagt Bibu. „Ein Kirschbaum, zwei Apfelbäume, ein Birnbaum, zwei Zwetschgenbäume und ein Nussbaum.“
„Nein, ich meine, bist du sicher, dass es keine Geister sind?“
„Kann man von einem Geist Kirschen, Äpfel, Birnen, Zwetschgen oder Nüsse ernten?“, fragt Bibu.
„N-nööö…“
„Und kletterst du nicht gerne im Kirschbaum herum? Ein Geist wäre nicht unbedingt zum Klettern geeignet.“
„Stimmt“. Max stellt sich vor, wie er in einem Klappergespenst herumkletterte und muss lachen. Blödsinn! Es sind wirklich nur kahle Obstbäume im Nebel. Sonst nichts.
Erleichtert lacht Max zum Kirschbaum hinüber. Dann denkt er wieder an die Bescherung. Wie lange muss er noch warten? Wann wird es dunkel?
„Dunkel“, sagte er wieder. „Werde dunkel!“
Er presst die Nase an die Fensterscheibe und starrt den Kirschbaum an. Aber was ist das?
„D-da k-klettert jemand herum. Im Baum!“ Verwundert reibt er sich die Augen.
Dieses Mal sind es keine Nebelfetzen und auch keine Geister dort draußen. Nein, ein kleines, blond gelocktes Mädchen in einem langen, weißen Hemd turnt in den Kirschbaumzweigen: vorwärts, rückwärts, hin und her und auf und ab. Jetzt macht es einen Purzelbaum und gleich noch einen Handstand und singt dabei fröhlich vor sich hin.
Max weiß nicht, was er sagen soll.
„Bärenfang und Honigtraum“, ruft Bibu. „Man glaubt es kaum!“
„Du siehst es auch?“, fragt Max, denn er will sich nicht schon wieder blamieren.
Bibu nickt. „Aber klar“, brummt er, und sein Brummen klang weich nun. „Ein Weihnachtsengel lässt sich nicht übersehen.“
„Ein Weihnachtsengel?“, staunt Max. „Warum turnt ein Weihnachtsengel am Heiligen Abend in unserem Kirschbaum?”
„Vielleicht, weil es ihm Spaß macht?“, schlägt Bibu vor. „Fragen wir ihn einfach!“
„Meinst du?“
Bibu nickt.
„Aber du kommst mit!“, sagt Max. Er öffnet das Fenster und klettert mit Bibu hinaus. Dann schleicht er zum Kirschbaum hinüber, denn er will den Weihnachtsengel nicht stören. Womöglich würde er vor Schreck vom Baum fallen und sich weh tun. Schritt für Schritt tastet sich Max an den Nebelbäumen vorbei zum Kirschbaum. Dieses Mal hat er keine Angst. Der Weihnachtsengel würde ihn beschützen. Aber wo war er nur?
„Wo bist du, kleiner Engel? Versteckst du dich?“, ruft Max. „Bitte komm! Ich will mit dir Weihnachten feiern.“
Der Engel schweigt. Max sucht überall, doch er kann ihn nicht finden. Als er schließlich in die Krone des Kirschbaums blickt, sieht er ein langes, blondes Haar am oberen Ast hängen. Ein Engelshaar. Im gleichen Augenblick hört er Mamas Rufe:
„Maaax! Wo bist du? Der Weihnachtsmann war daaa!“
Der Weihnachtsmann?
„Nun haben wir wegen all dem Spukkram doch glatt den Weihnachtsmann vergessen. So etwas aber auch.“
Max lacht und läuft ins Haus. Er muss noch lachen, als er vor dem Weihnachtsbaum steht und Lieder singt. Im obersten Zweig des Baumes nämlich hängt ein Haar. Ein langes, blond gelocktes Engelshaar, das jedes Jahr im obersten Zweig des Christbaums hängt.
© Elke Bräunling
Engelchen, Bildquelle © _Alicja_/pixabay