Der Anfang von etwas Neuem

Spätsommergeschichte mit dem kleinen Spatzen – Wenn die Vögel nicht mehr singen

„Bald ist es wieder so weit“, sagte Mama Spatz.
„Es? Was?“, fragte der kleine Spatz. „Was ist soweit und warum?“
„Das Ende“, murmelte seine Mutter.
„Das Ende? Was ist das schon wieder?“ Ein bisschen besorgt sah der kleine Spatz Mama Spatz an. Sie war seltsam heute, traurig irgendwie, und anders als sonst. Sie sang auch nicht mehr so oft ihre Lieder. Eigentlich sang sie gar nicht mehr. Sie stritt auch fast nicht mehr mit den anderen Spatzen, die im Dach des alten Hauses ihre Nester hatten. Nein, sie war still geworden.
Wenn er es sich so genau überlegte, waren die anderen Spatzen hier auch nicht mehr so gesprächig und fröhlich wie sonst. Ähnlich war es bei den Meisen, den Finken, der Zaunkönigfamilie, und die Gesänge der Amseln früh am Morgen hatte er auch lange nicht mehr gehört. Komisch. War das dieses Ende?
„Was ist ein Ende?“, fragte er noch einmal, leise nun, weil er sich nun doch erschrocken hatte. Und irgendwie ahnte er schon, was Mama Spatz meinte. Es war so vieles anders geworden. Nicht nur das Singen. Ob die Sonne schuld daran war? Die nämlich kam am Morgen immer später und später, als wollte sie auch nicht mehr singen. Halt, nein, eine Sonne sang ja nicht. Sie …
„Kann die Sonne singen?“, fragte er da doch zur Sicherheit nach. „Und wenn, warum kommt sie nicht mehr zur Morgenfrühe?“
„Morgenfrühe? Eine Sonne, die singt? Was du dir nur wieder denkst!“
Mama Spatz musterte ihren kleinen Sohn, der gar nicht mehr klein, sondern zu einem stattlichen Spatzenjungen herangewachsen war und ihre Fürsorge nicht mehr brauchte. Er würde nun alleine in diesem Leben zurechtkommen. Gerade noch zur rechten Zeit.
„Keiner singt mehr zum Ende des Sommers“, fuhr sie fort. „Wir haben unsere Arbeit getan. Nun bereiten wir uns auf den Abschied vor, so wie es die Sonne auch tut. Sie macht dem großen Dunkel Platz und für uns beginnt die Zeit der Ruhe.“
„Das große Dunkel? Ist das dieses Ende?“
Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte der kleine Spatz seine Mutter an.
Die lächelte. „Du musst dich nicht fürchten. Es ist die Ruhe vor der Wiederkehr der Sonne im nächsten Jahr und dem Neubeginn des nächsten großen Singens, und dann, mein lieber Sohn, singst auch du mit. Dann nämlich baust auch du dir dein Nest für deine eigene Familie.“
„Ich? Oh! Wie schön! Das Ende ist also so etwas wie der Anfang von etwas Neuem, einer ganz besonderen großen Sache?“
Der kleine Spatz jubelte und beinahe hätte er schon jetzt damit begonnen, sein eigenes Liedchen zu singen. Sein Liebesliedchen fürs nächste Jahr, wenn auch er ein Spatzenpapa sein würde. Schön würde das sein. Er spürte, wie die Freude in seinem Herzen ihre eigenen Melodie sang. Die Melodie des neuen Lebens.

© Elke Bräunling

Spatzenplauderei, Bildquelle ©  Oldiefan/pixabay

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