Der kleine himmelblaue Drache ist frühlingsmüde
Gutenachtmärchen im frühen Frühling – Auch in Höhlen kann es laut und fröhlich zugehen
„Ist es vorbei? Ich muss doch mal nachsehen!“
Vorsichtig streckte der kleine himmelblaue Drache die Nase aus der engen Felsspalte der Höhle, in der er mit seinen Gefährten, dem achtbeinigen blinden Höhlenmolch und den ewig singenden Murmelleuten die Winterzeit verbracht hatte. Die Welt da draußen fehlte ihm und er wollte wieder Licht sehen, den Himmel die Sonne, die Wolken und die Lebewesen auf der Erde, die Menschen und Tiere.
„Der Winter ist lang gewesen“, sagte er. „Ich möchte das Leben wieder sehen.“
„Hier ist auch Leben. Oder langweilst du dich mit uns?“, meinte der alte Molch und einer der Murmelleute fragte:
„Sollen wir dir noch ein Lied singen?“
Der kleine Drache unterdrückte einen Seufzer. Alles, bloß kein weiteres Lied der Murmelleute mehr. Den ganzen Winter über hatten sie gesungen und gesummt und geflüstert und gebrabbelt, gemurmelt und geraunt und geredet, geredet, geredet. In einem fort. Keinen Nacht ist er zum Schlafen gekommen und auch am Tag nicht, und nun war er müde.
„Später!“, sagte er schnell. „Ich muss erst einmal nachsehen, ob dieses eisige Eis noch immer den Höhlenausgang versperrt. Vielleicht wartet schon der Frühling da draußen auf uns. Wäre das nicht wunderbar?“
Er streckte die Nase noch ein bisschen weiter aus dem Felsspalt, bis er nicht mehr weiter kam. Die hellblau schimmernde Eisscheibe versperrte nicht mehr ganz so dick den Weg.
„Das Wintereis! Es wird bald weggetaut sein und dann ist endlich der Frühling da. Ich möchte wieder frei sein und das Leben sehen.“
„Wir sind auch das Leben“, murmelte der alte Molch. „Das innere Leben, das Höhlenleben. Und es ist gut. Man kann es aushalten.“
„Und wie! Und wie sehr!“ Aufgeregt sprangen die pelzigen Murmelleute, die Murmellmänner und Murmelfrauen und Murmelkinder, durch die Höhle. „Es ist schön unser Leben hier, so friedlich und frei und still. Da ist keiner, der uns schaden will. Jaja.“
Der kleine himmelblaue Drache seufzte. Still? Oh, wenn es doch still wäre, so könnte man dieses Höhlenleben gut aushalten. Waren diese Murmelleute denn nie müde? Er wollte dies gerade fragen, als ein Murmelmann sich vor ihm aufbaute:
„Und weil es so schön mit uns ist, singen wir dir unser neues Lied.“
Der kleine himmelblaue Drache war zu müde, um sich zu wehren. Er versuchte es trotzdem:
„Macht euch keine Mühen“, sagte er. „Ihr habt mich so lange mit euren Liedern und Geschichten unterhalten, und dafür danke ich euch. Aber nun ruht euch aus und spart eure Kräfte für die Tage des Frühlings. Sie sind wirklich sehr nahe, scheint mir.“
Und ich bin müde, dachte er bei sich. So sehr müde.
„Oh, wir sind nicht müde!“, riefen da die Murmelleute im Chor und schon begannen sie zu singen. Einen vielstimmigen Kanon, der von Freunden handelte, die der Winter schuf und von denen man sich nie wieder trennen würde, von Stille, Friede und Freisein.“
Sie sangen und sangen, und weil es ein Kanon war, schienen sie gar nicht mehr damit aufzuhören.
Noch einmal seufzte der kleine Drache. Er seufzte ganz leise.
Jetzt verstehe ich, was die Menschen meinen, wenn sie von einem harten Winter und dem großen Müdesein im frühen Frühling sprechen, dachte er.
Ergeben schloss er die Augen und lauschte den Gesängen und schlief dann doch ein, um vom Frühling zu träumen, von warmen Lüften und Blütendüften, von Sonnenschein und der Freiheit, endlich wieder über den himmelblauen Himmel zu fliegen.
© Elke Bräunling
Die Geschichten mit dem kleinen himmelblauen Drachen findest du hier:
Das Märchen vom schüchternen kleinen himmelblauen Drachen
Der kleine himmelblaue Drache und das lachende Herz
Der kleine himmelblaue Drache ist frühlingsmüde
Der kleine himmelblaue Drache und die Apfelwiese
Der kleine himmelblaue Drache und der bunte Herbst
Frühlingsanfang, Bildquelle © cocoparisienne/pixabay