Das Weihnachtshaus mit den Butzenscheiben
Zum Advent für euch hier das ganze Buch zum Lesen und zum Anhören
© Elke Bräunling
Das Weihnachtshaus mit den Butzenscheiben
Eine Zeitreise ins vorweihnachtliche Elsass im Jahr 1752
Kurzinhalt/Klappentext: Altmodisch sieht das Haus mit den Butzenscheiben auf Annas Adventskalender aus und zuerst ist sie enttäuscht. Aber dann lernt Anna sein Geheimnis kennen. Mit ihrem Hund Flöckchen landet sie in einer anderen Zeit an einem anderen Ort – im Elsass vor zweihundert Jahren, wo sie bei einer Familie unterkommt und miterlebt, wie die ersten Christbäume geschmückt werden und die ersten Glaskugeln erfunden werden.
Märchenhafte Erzählung mit historischem Kontext.
Die liebe Vera Stölzel-Hegemann erzählt euch in diesem Jahr die Geschichte in ihrem Podcast X-MAS Hörkalender Von Nebenan! Kennste? bei Spotify und alternativ hier bei Podigee.
Jeden Tag öffnet sie ein Adventkalendertürchen mit einem neuen Kapitel und sie erzählt die Geschichte wunderschön. Ich bin verliebt. Du vielleicht bald auch? ❤️
Inhalt
1. Gleich zwei Adventskalender
Dieses Mal bekam Anna zwei Adventskalender geschenkt. Das war nichts Besonderes. In letzter Zeit schenkten ihr die Eltern immer alles zweifach.
„Welches Geschenk gefällt dir besser?“, fragte Papa dann. „Meines oder das von Mama?“
Anna wusste nie, was sie antworten sollte. Sie hatte doch beide lieb. Mama und Papa. Keiner sollte traurig sein. Und streiten sollten sie auch nicht miteinander. Das taten sie in letzter Zeit nämlich oft.
Und jetzt die Sache mit den beiden Adventskalendern. Was sollte Anna mit zwei Adventskalendern anfangen?
Der von Mama war toll: glitzerbunt mit einem Weihnachtsbaum. Dick war er, der Kalender, und es klapperte geheimnisvoll, wenn man ihn schüttelte. Das war die Schokolade hinter den vierundzwanzig Fenstern.
Papas Kalender klapperte nicht. Er glitzerte auch nicht und besonders bunt war er auch nicht. Er war eigentlich nur ein Bild, das ein altes Haus zeigte mit einem kleinen Platz und einem Brunnen. Zwei Kinder in altmodischen Kleidern schleppten sich mit schweren Körben ab. Das sah nicht weihnachtlich aus. Wenigstens schneite es, und eine dünne Schneedecke lag wie Puderzuckerstaub über der Landschaft. Aber sonst? Nichts erinnerte an Weihnachten. Nur das kleine Butzenscheibenfenster unten rechts vielleicht, das vom Licht einer Kerze hell erleuchtet war.
Ein seltsamer Adventskalender! Anna drehte ihn hin und her und betrachtete ihn von allen Seiten.
Ihre Eltern beobachteten sie erwartungsvoll.
„Na?“, fragte Papa da auch schon. „Gefällt dir mein Kalender?“
Anna zögerte. „Na ja“, meinte sie vorsichtig, „Schokolade ist keine drin.“
Mama fing an zu grinsen. „Aber in meinem Kalender findest du leckere Schokolade“, sagte sie. „Vierundzwanzig kleine, süße Stückchen. Das magst du doch, oder?“
Anna nickte. „Ja, schon.“
„Also gefällt dir mein Kalender besser als Papas?“
„Warum soll ihr dein Kalender besser gefallen als meiner?“, schimpfte Papa los. „Sie hat doch noch gar nichts gesagt. Du mit deiner blöden Schokolade!“
„Und du“, wehrte sich Mama, „kaufst einen Kalender mit einem altmodischen Bild von einem alten, langweiligen Haus. Ha! Was hat das denn mit Advent und Weihnachten zu tun?“
Schon lagen sie sich in den Haaren. Und dabei hatte Anna doch noch gar nichts gesagt!
Anna seufzte. „Komm, Flöckchen“, sagte sie leise. „Wir gehen besser.“
Sie nahm die beiden Kalender und ging mit ihrem Hund Flöckchen in ihr Zimmer. Sie hörte ihre Eltern noch lange streiten.
Bildquelle © distelAPPArath/pixabay
2. Früher war alles viel schöner
Achtlos legte Anna die beiden Kalender in ihr Regal.
„Warum müssen sie sich immer streiten?“, murmelte sie. „Nichts macht mehr Spaß. Mist, blöder!“
Anna war enttäuscht. Und traurig. Sie warf sich aufs Bett und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. Was war nur los? Hatten sich ihre Eltern nicht mehr lieb? Immerzu schimpften sie aufeinander ein. Ob sie sich scheiden lassen wollten? Davor hatte Anna Angst. Große Angst.
„Zwei Adventskalender brauche ich nicht“, murmelte sie und kämpfte mit den Tränen. „Am liebsten möchte ich gar keinen haben. Nur wie früher soll es wieder sein. Ja, wie früher. Da war alles viel schöner.“
Und nun musste Anna doch weinen. Leise schluchzte sie ihren Kummer ins Kissen.
Da fuhr auf einmal eine feuchte Zunge über ihr Gesicht, und das Bett begann zu beben wie ein Schiff auf hoher See. Es war ihr Hund Flöckchen, der seinen schweren Körper mühsam auf Annas Bett wuchtete.
„Oh, Flöckchen!“, rief Anna und musste trotz der Tränen lachen. Es sah zu komisch aus, wie der große Hund sich abmühte.
„Ist ja schon gut“, sagte sie und schlang die Arme um Flöckchens Hals. „Ich bin gar nicht mehr so sehr traurig. Ich habe ja dich.“
Und dann machten sie es sich gemeinsam auf dem Bett gemütlich, die kleine Anna und der große Hund.
Flöckchen war mit seinen langen, weißgrauen Zottelhaaren nämlich alles andere als ein kleines, zartes Flöckchen. Eher eine Riesenflocke, oder wie Papa manchmal sagte, ein guter Ersatz für einen Flokatiteppich.
„Ja“, seufzte Anna, „letztes Jahr war alles anders. Viel schöner. Und da hab ich auch dich bekommen, mein liebes kleingroßes Flöckchen. Du warst mein bestes, mein allerschönstes Weihnachtsgeschenk.“
Nachdenklich starrte sie auf die beiden Adventskalender, die, mit dem Kopf zuunterst, auf dem Regal lagen.
„Früher“, erzählte sie dem Hund, „haben wir das erste Adventskalendertürchen gemeinsam geöffnet. Dann haben wir eine Kerze angezündet und „Macht hoch die Tür“ gesungen. Das war schön. Und lustig. Papa hat nämlich zwischendrin immer nur „La-la-la“ gebrummt, weil er wieder mal den Text vergessen hat, und Mama hat ihn dann in die Seite gepiekt. Dann haben wir alle gelacht und viel Spaß gehabt.“
Anna lächelte, als sie daran dachte.
„Aber gestritten“, sagte sie dann, „haben sie deswegen nicht. Nein, gelacht haben sie. Oh, war das schön! Früher…!“
Anna erzählte und erzählte. Von früher. Von Adventslichtern und Weihnachtswichteln, vom Plätzchen backen und vom Weihnachtsmarkt, vom Nikolaus und vom Wünsche-Ausdenkspiel.
Und auf einmal fühlte sie sich besser.
„Wirklich gut, dass ich dich habe“, sagte sie zu Flöckchen und streichelte über den wuscheligen Hundekopf.
Dann musste sie kichern. „Stell dir vor, ich hätte letztes Weihnachten zwei Flöckchen bekommen, einen von Papa und einen von Mama. Da hätten wir gar keinen Platz zu dritt auf dem Bett.“
3. Das doppelte Flöckchen
In dieser Nacht träumte Anna doppelt.
Alles war doppelt: der Adventskalender, Flöckchen, der Adventskranz, der Nikolaus, der Weihnachtsbaum, ja, selbst Mama und Papa gab es doppelt. Und die doppelten Eltern stritten auch doppelt laut. Es war nicht zum Aushalten.
Anna graulte sich schrecklich. Kein Wunder bei all dem Doppelten!
Anna gab es in diesem Traum aber nur einmal. Sie war allein und sehr klein. All die „Doppelten“ aber stritten und stritten.
Da wurde es dem Weihnachtsbaum aus Mamas Glitzer-Schokoladenkalender zu bunt. Er stieg aus dem Kalender, schüttelte sich, und sein Silberflitter fiel auf Anna. Sie begann zu glitzern wie ein Zirkuspferd. Der „Ohne-Flitter-Weihnachtsbaum“ marschierte nun schnurstracks weiter auf das alte Haus in Papas Kalender zu.
Dann fingen die beiden Kalender auch zu streiten an.
„Ich bin der Schönste“, rief der Weihnachtsbaum.
„Nein, ich“, dröhnte das Haus zurück.
„Ha! Du? Du bist alt und vergammelt!“
„Aber interessant. Außerdem hast du bereits einen großen Teil deines Flitterstaubes verloren. Was bist du denn schon?“
„Ein Weihnachtsbaum. Der Traum aller Kinder!“
„Und ich bin ein Haus. Ich habe auch meine Geheimnisse, und die sieht man mir nicht gleich an.“
„Hohoho!“, höhnte der Weihnachtsbaum. „Was kann das schon sein?“
„Hähähä!“, meckerte das Haus, „wer zuletzt lacht…!“
So ging es immer weiter. Sie stritten und stritten.
Dann war auf einmal alles Doppelte verschwunden. Ein Papa war da und eine Mama, eine Anna und ein Flöckchen. Jeder stand alleine da, weit vom anderen entfernt.
Das Streiten hatte aufgehört. Es war still. Sehr still und das war schlimmer als das laute Schimpfen und Streiten.
„Zu wem möchtest du lieber gehen?“, fragte Papa. „Zu Mama oder zu mir?“
„Keine Frage“, sagte Mama, „zu mir natürlich.“
„Nein, zu mir!“
„Ha. Zu mir!“
„Neiiiin!“ Anna bekam fast keine Luft mehr.
Immer dieses ‚Wen-oder-was-möchtest-du-lieber?‘!
„Ich sage nichts mehr“, schrie sie. „Gar nichts mehr.“
Anna schrie und schrie.
Und da war wieder das doppelte Flöckchen. Drohend stand es vor Anna und schlug mit seinen Riesenpfoten zu. Es schlug doppelt. Und es tat doppelt weh. So weh, dass Anna aufwachte.
„Oh, mein Kopf“, stöhnte sie und blickte zu Flöckchen, der vor dem Bett stand und mit der Pfote zärtlich auf Anna einhaute. Aber er stand nur einmal da, nicht doppelt. Gott sei Dank.
„So ein blöder Traum!“, brummte Anna und streichelte Flöckchen über den Kopf.
4. Anna, wo bist du?
Am nächsten Tag fühlte sich Anna wirr und durcheinander. Kein Wunder nach diesem Traum! Die Sorgen und dummen Gedanken waren nach dem Aufwachen auch gleich wieder da gewesen.
Schweigend kaute sie an ihrem Brötchen, und auch ihre Eltern redeten nicht viel beim Frühstück. Sie stritten auch nicht. Es war so still wie in Annas Traum. Fast unheimlich still.
In der Schule konnte Anna nicht aufpassen. Zu viele Sorgen wirbelten in ihrem Kopf herum. Wie dicke Nebelschwaden, die sich nicht vertreiben ließen. Wenn Mama und Papa doch bloß nicht …
Ach, warum musste immer alles so kompliziert sein?
Geistesabwesend starrte sie aus dem Fenster. Draußen war es so nebelig wie in ihrem Kopf.
„Anna, wo bist du?“, fragte Herr Ziegler.
„Hier!“, sagte Anna erschrocken.
Ihr war, als wäre sie gerade weit weg an einem unbekannten, fernen Ort gewesen. „Ich bin doch da!“
„Wirklich?“ Herr Ziegler sah sie zweifelnd an. Doch er ließ sie mit seinen Fragen in Ruhe.
Anna aber ärgerte sich, und sie gab sich Mühe, ab jetzt besser aufzupassen. Aber dieser Sorgennebel in ihrem Kopf machte es ihr schwer. Sie war da und doch nicht da.
„Und jetzt kommen wir zu unserem Adventskalender“, sagte Herr Ziegler später.
„Oh ja“, jubelten Annas Mitschüler, und viele Kinderaugen blickten begehrlich auf die ´24-Päckchen-Kette´, die quer durchs Klassenzimmer gespannt war. 24 bunte, kleine Päckchen für 19 Schüler und einen Lehrer. Jeden Tag durfte ein anderes Kind ein Päckchen von der Schnur nehmen, und in jedem Päckchen war eine Überraschung drin.
„Wer möchte das erste Adventspäckchen öffnen?“
„Ich!“ „Ich!“ „Nein, iiich!“, schrie es von allen Seiten.
„Vielleicht“, meinte Herr Ziegler und machte eine kleine Pause. „Ja, magst du dein Adventskalender-Päckchen öffnen, Anna?“ Er blickte zu Anna hinüber. „Anna, hörst du?“
Erschrocken fuhr Anna zusammen.
„W-wie bitte?“, stotterte sie. „I-ich habe gerade nicht zugehört. E-entschuldigung.“
„Mann, bist du doof!“, meckerte Leni von hinten, und Fabian schrie: „Pennerin.“
Die anderen aber lachten.
Ihr habt gut lachen, dachte Anna. Hilflos starrte sie Herrn Ziegler an. Der lachte nicht.
„Ich habe dich nur gefragt, ob du heute das erste Adventskalender-Päckchen öffnen möchtest, Anna“, erklärte er freundlich.
„Ich?“, flüsterte Anna ungläubig. „Warum gerade ich?“
Sie musste an die beiden Adventskalender daheim in ihrem Regal denken. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen.
„Neiiiiin!“, schrie sie und rannte aus dem Klassenzimmer.
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5. Lust auf süß
Nach dem Mittagessen hatte Anna Lust auf süß. Sie musste immer etwas naschen, wenn sie sich traurig fühlte. Aber heute war Papa mit dem Kochen an der Reihe und der mochte all den Süßkram nicht.
„Iss einen Apfel!“, sagte er. „Der ist auch süß.“
„Böh“, machte Anna und biss in einen Apfel. „Total sauer ist der! Bäh!“
Papa aber lachte nur und küsste Anna zum Abschied auf die Backe. „Tschüs, du Schleckermaul! Ich muss wieder ins Büro. Bis heute Abend.“
„Bis heute Abend!“ Anna wartete, bis Papa die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Dann warf sie den angebissenen Apfel in den Obstkorb zurück.
„Pfui Teufel. So etwas Saueres aber auch!“
Na ja, morgen war Mamas Kochtag. Dann würde es bestimmt Pudding oder Eis oder eine andere leckere Süßspeise als Nachspeise geben. Aber so lange konnte Anna nicht warten. Sie hatte jetzt Lust auf etwas Süßes. Auf Schokolade.
Da fiel ihr Mamas Adventskalender ein.
„Prima“, sagte sie zufrieden, „da ist doch Schokolade drin.“
Sie hangelte den Kalender vom Regal und betrachtete ihn. Hübsch und weihnachtlich war er, dieser glitzerbunte Weihnachtsbaum. Es schien, als lachte er sie freundlich an.
Anna strich zart über den Silber-Flitter.
„Gefällt mir sowieso besser, dieser Kalender“, brummte sie und öffnete das erste Türchen. „Hm, eine kleine Kerze aus Schokolade. Toll.“
Sie machte das zweite Türchen auf. „Ein Glöckchen. Niedlich. Und wie lecker es schmeckt!“
Ja, die Schokolade schmeckte gut. Zu gut. Schnell öffnete Anna auch noch das dritte Türchen, das vierte, das fünfte, das sechste, das siebte, das achte…
Anna öffnete und aß und aß und öffnete. Hm, fein. Ohne es zu merken, war Anna schon beim 16. Kalendertürchen angelangt. Sie erschrak.
„Oh“, sagte sie und betrachtete den Kalender. „Jetzt sieht er aber schrecklich ‚geöffnet‘ aus. Und irgendwie traurig.“
Anna bekam ein schlechtes Gewissen. Die Schokolade schmeckte auch nicht mehr so gut.
„Ein bisschen langweilig“, fand sie. „Und alt. Irgendwie.“
Vorsichtig drückte sie alle Kalendertürchen zu.
„Jetzt ist er wieder wie neu.“ Sie schüttelte den Kalender. „Wenn es auch nicht mehr ganz so laut klappert.“
Sie legte den Kalender ins Regal zurück und machte sich an ihre Hausaufgaben. Doch verflixt: Was hatte sie denn überhaupt auf? Sie hatte keinen blassen Schimmer.
„Kein Wunder!“, brummte sie. „Bei so einem Tag! Komm, Flöckchen, wir gehen zu Katrin! Hausaufgaben machen.“
6. Ein rummeliger Tag
Anna und Flöckchen bummelten durch die Stadt.
Es weihnachtete. Überall lag Weihnachten in der Luft. Anna schnupperte. Man konnte es richtig riechen. Und sehen konnte man es auch: Hell und lockend leuchteten die elektrischen Kerzen der Weihnachtsbäume, und über die Straßen waren Lichterketten gespannt. Sie glitzerten bunt und sahen aus wie kleine Tannenbäume, Sterne, Engel, Christkindfiguren und Nikoläuse.
Anna freute sich an den bunten Bildern. Langsam schlenderte sie mit Flöckchen durch die Straßen. Vor jedem Schaufenster machten sie Halt. Überall sah es so schön weihnachtlich aus. Das gefiel ihr.
Doch sie schien die einzige zu sein, die daran Gefallen fand. Es war nämlich viel los in den Straßen und überall herrschte Trubel. Die Leute rasten mit Tüten und Taschen beladen von einem Geschäft zum anderen. Sie drängelten und schubsten und schimpften. Autos hupten und warteten in langen Schlangen auf einen Parkplatz. Aus den Geschäften dröhnte Weihnachtsmusik: „Stille Nacht“, „Oh, du fröhliche“ und „Leise rieselt der Schnee.“
Das fand Anna nicht schön.
„Komisch“, sagte sie und blickte in das flitterbunt geschmückte Schaufenster der Bäckerei Knisper mit den Glitzerschokonikoläusen, den Lebkuchenengeln und den Goldschokoladensternen.
„Still und leise ist es hier nicht und sehr fröhlich sehen die Leute auch nicht aus. Eher muffig und gestresst.“
Sie blickte sich noch einmal um. „Nein, Flöckchen“, sagte sie dann. „Hier freut sich niemand auf Weihnachten, und diese Musik passt auch nicht hierher. Es ist nur rummelig, genauso wie in meinem Kopf. Sonst nichts. Und Weihnachten? Also ich weiß nicht, ob ich dieses Weihnachten hier gut leiden mag.“
„Hallo, Anna!“, rief es da von irgendwo her aus der Menge. Es war Leni aus ihrer Klasse.
„Hallo“, muffelte Anna zurück.
„Bist du immer noch so mies gelaunt wie heute morgen in der Schule?“, fragte Leni vorsichtig.
„Nein, nein“, sagte Anna schnell und deutete auf den Schreibblock in Lenis Hand. „Was machst du hier?“
„Ich schreibe meinen Wunschzettel“, erklärte Leni eifrig, „und da muss ich mir noch ein paar Wünsche aussuchen. Kommst du mit?“
„Nö, ich habe keine besonderen Wünsche“, sagte Anna. „Ich brauche keinen Wunschzettel.“
„Keine Wünsche?“ Leni vergaß vor Überraschung, den Mund wieder zuzumachen. „Gar keine Wünsche?“, sagte sie noch einmal. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Es ist aber so“, trotzte Anna, und nach einigem Nachdenken fügte sie leise hinzu:
„Doch! Einen Wunsch hätte ich schon, doch den kann man nicht kaufen, schon gar nicht in einem Kaufhaus.“
7. Das Haus mit den Butzenscheiben
„Das war wirklich ein rummeliger Tag heute“, sagte Anna am Abend zu Flöckchen. „Erst dieser blöde Traum, dann die Sache in der Schule, die sechzehn Kalenderschokoladenstückchen, ja, und in der Stadt war es auch nervig.“
Sie stöhnte. Sie saß in ihrem Zimmer und langweilte sich. Und weil sie sich langweilte, griff sie zu den Kalendern im Regal und lehnte sie nebeneinander an die Wand: Mamas Glitzerweihnachtsbaum und Papas altes Haus.
Eigentlich, dachte Anna, könnte Mamas Glitzerbaum ins Schaufenster von Bäcker Knisper passen. Papas Haus aber nicht.
Und irgendwie gefiel ihr der Glitzerbaum nicht mehr. Auf dem Bild mit dem Haus sah es gemütlicher und ruhiger aus. Es schneite in dicken Flocken, Eiszapfen hingen von den Dachrinnen herab und die Kerze im Fenster unten rechts schimmerte.
Das sah richtig weihnachtlich aus. Und der Schnee blieb sogar liegen. Es gab keine Autos, die ihn gleich wieder platt walzten.
Was wäre, überlegte sie, wenn das Kalenderhaus in unserer Stadt stände? Da sähe es bestimmt nicht so alt aus. Und auch nicht so gemütlich. Der kleine Platz wäre so dicht zugeparkt, dass man vor lauter Autos den Brunnen mit seinen uralten Steinmustern und dem kleinen, runden Dach nicht sehen könnte. Ja, und das Haus mit den dunklen Holzbalken und dem großen, runden Tor wäre bestimmt ganz modern. Es hätte auch nicht mehr diese niedlichen Butzenscheibenfenster. Nein, Schaufenster gäbe es, große, helle, mit Glitzerweihnachtsschmuck, Reklameschildern und Lichterketten, die immerzu blinkten: an und aus, an und aus, an und aus …
„Oh je. Schrecklich!“ Anna schüttelte sich.
„Nein“, sagte sie laut, „so passt es viel besser zu Weihnachten.“
Dann hängte sie die beiden Kalender nebeneinander auf. Doch immer wieder musste sie auf das alte Butzenscheibenhaus sehen.
Als Papa später zum Gutenachtsagen ins Zimmer kam, fiel sein Blick sofort auf die beiden Kalender an der Wand.
„Oh, du hast sie aufgehängt?“, freute er sich. „Prima.“
Anna hielt den Atem an.
Hoffentlich fragt er jetzt nicht, welchen Kalender ich lieber mag, betete sie insgeheim.
Doch er fragte nicht. Nachdenklich betrachtete er die beiden Kalenderbilder, und für eine Weile blieb es still im Zimmer.
„Schön“, sagte er nochmals. „Wirklich schön. Aber warum sind noch alle Türen verschlossen?“
Anna grinste. „So gefallen sie mir besser.“
Papa lächelte. „Du hast recht“, sagte er. „Mir auch.“
8. Papas Weihnachtsland
Liebevoll strich Papa mit dem Finger über das Haus mit den Butzenscheiben. „Weißt du“, sagte er, „dieses Haus erinnert mich an ein Haus, das mir einmal sehr gut gefallen hat.“
„So ein Haus?“, fragte Anna und deutete auf das Kalenderbild.
„Ja. Es steht in einer kleinen Stadt im Elsass. In Frankreich.“
„So weit?“
Papa nickte. „Ja, so weit. Und die Stadt heißt Schlettstadt. Die Franzosen sagen aber ‚Sélestat‘ dazu.“
Anna kicherte. „Sé-le-staaa“, buchstabierte sie mühsam. „Das klingt ulkig.“
„Schlettstadt klingt einfacher, nicht?“, fragte Papa. „Nun, lange Zeit hat es auch so geheißen. Da hat es nämlich zu Deutschland gehört. Dann war es für eine Weile französisch, dann wieder deutsch, und jetzt gehört es wieder zu Frankreich.“
Anna wunderte sich. Das war ja fast so ein bisschen wie mit Mama und Papa und ihr. Jeder wollte sie für sich alleine haben, und damals hatte jedes Land dieses Schlettstadt für sich alleine haben wollen.
„Oh je“, sagte sie. „Die arme Stadt.“
Annas Vater lachte. „Die Sache mit dem Elsass war eben ein bisschen schwierig. Es ist nämlich sehr schön mit seinen Dörfern und Städten, den alten Häusern und Brunnen, dem Weinlaub an den Hauswänden und dem bunten Blumenschmuck. Und ringsum siehst du weite Weinberge mit Obstbäumen. Ja, das Elsass ist wie ein großer Garten.“
„Klingt wirklich schön“, sagte Anna.
Papa nickte. „Das ist es auch. Im Frühling blühen die Obstbäume, und das Land schimmert weiß und rosa wie eine Puderzuckerlandschaft. Im Sommer kannst du dich nicht satt sehen an den Pflanzentrögen in den Dörfern, ja, und der Herbst ist im Elsass ein toller Farbenkünstler, so bunt ist es überall in den Wäldern und Weinbergen. Am allerschönsten aber ist es im Winter. In der Weihnachtszeit.“
Und mit geheimnisvoll klingender Stimme fügte Papa hinzu:
„Das Elsass ist nämlich … ein … Weihnachtsland!“
„Ein Weihnachtsland?“, fragte Anna überrascht.
Wie aufregend! Anna dachte glitzerhell und flimmerschimmernd. Sie stellte sich Goldsterne und Silberflitter vor, Weihnachtswiesen und Spielzeugländer, den Nikolaus und das Christkind und viele Weihnachtsmärchenträume.
„Gibt es denn ein Weihnachtsland?“, fragte sie.
Papa nickte. „Na ja“, meinte er. „Das mit dem Weihnachtsland ist leider nur ein Märchen. Wenn dieses Märchen aber ein bisschen wahr werden soll, dann muss man ins Elsass fahren. Wer Weihnachten mag, fährt am allerbesten dort hin. Die Weihnachtszeit ist in meiner Erinnerung dort nämlich nicht glitzerbunt und trubelig laut wie bei uns.“
Er machte eine kleine Pause. „Ich meine, damals, als ich das Weihnachts-Elsass besuchte, war es sehr feierlich schön dort und bestimmt ist es das heute auch noch.“
„Nicht glitzerbunt?“ Enttäuscht begrub Anna ihren Traum von buntem Flimmerschimmer.
„Nein“, sagte Papa, „gemütlicher ist es. Und stimmungsvoller. Das ist viel weihnachtlicher als der ganze Flitterkram.“
Papa begann zu erzählen. Er erzählte und erzählte, und Anna lauschte. Vor Aufregung hatte sie rote Backen bekommen.
Schön war es in Papas Elsass-Weihnachtsland.
9. Ein gemütlicher Abend
Mama kam ins Zimmer. „Oh“, sagte sie. „Du erzählst von deinem Weihnachtsland?“
Papa lächelte. „Ja.“
Und Mama lächelte zurück.
Da mochte Anna dieses unbekannte Elsass noch viel mehr leiden.
„Kennst du es auch?“, fragte sie.
„Aber klar“, sagte Mama. „Wir waren schon ein paar Mal da.“
„Oh ja.“ Papa lächelte noch immer. „Schön war es gewesen.“
„Besonders auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt. Hat dir Papa davon erzählt?“
Anna schüttelte den Kopf.
Da setzte sich Mama neben Papa auf die Bettkante, und dann erzählten sie beide. Vom Weihnachtsmarkt in Straßburg.
„Es ist der schönste Christkindelsmarkt, den ich kenne“, sagte Papa. „Er ist nicht so groß und bunt wie die Weihnachtsmärkte bei uns. Aber viel weihnachtlicher.“
„Stimmt.“ Mama nickte eifrig. „Schon von weitem kannst du ihn riechen mit seinem Tannenduft. Und mit seinen Waffelbäckern. Die backen da nämlich die knusprigsten Waffeln der Welt. Ja, und überall stehen Maronibrater mit heißen Maronis. Hm, das riecht fein. Und wie es erst schmeckt!“
Sie machte eine kleine Pause, schloss die Augen und zog die Nase genießerisch hoch.
„Hm!“ Anna dachte an süße Vanillewaffeln. Sie schnupperte und glaubte, den Geruch der Weihnachtsmarktwaffeln auch ein bisschen in der Nase zu spüren.
„Ja“, sagte Mama, „diesen Duft vergisst man nicht. Es ist … ja, so riecht Weihnachten. Nach gezuckerten Waffeln und heißen Maroni.“
„Und nach Weihnachtsplätzchen und Lebkuchen“, ruft Anna.
„Ihr seid mir zwei Leckermäuler!“ Papa lachte fröhlich auf. „Tannenzweige und Honigkerzenlichter duften viel mehr nach Weihnachten.“
„Waffeln sind aber auch nicht schlecht“, kicherte Anna.
Da mussten erst einmal alle lachen.
Oh, war das schön!
„Es ist auch stiller da und ruhiger“, fuhr Papa fort.
Anna musste an die Weihnachtslieder in den Geschäften denken. „Das ist auch viel weihnachtlicher“, meinte sie.
Der Vater nickte. „Stimmt. Die Stille gehört zu Weihnachten. Auf dem Straßburger Christkindlsmarkt findest du sie noch. Und was es da nicht alles zu sehen gibt! Den schönsten Christbaumschmuck, so weit das Auge reicht, Holzspielzeug, ja, und Krippenfiguren aus dem ganzen Land. Und dann sind da noch die Wunderkerzenmänner. Sie verkaufen die größten Wunderkerzen, die ich je gesehen habe.“
„Und in Séle-staa?“, fragte Anna. „Gibt es da auch einen Weihnachtsmarkt.“
Mama nickte.
„In Schlettstadt gibt es noch etwas anderes. Es ist eine Geschichte für sich.“
„Eine Geschichte?“
„Ja. Die Geschichte vom ersten Christbaum. Willst du sie hören?“
Anna nickte eifrig. Sie freute sich. Was für ein gemütlicher Abend!
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10. Der erste Christbaum
Annas Eltern erzählten die Geschichte des Christbaums. Den hatte es nämlich zuallererst im Elsass gegeben. Vor über 400 Jahren. Das war lange, bevor man ihn in anderen Ländern kannte.
„Ehrlich wahr?“, fragte Anna.
„Ehrlich wahr“, sagte Papa. „Und den allerersten Christbaum soll es in Schlettstatt gegeben haben. In der ‚Auberge des Alliés’.“
„Obärsch?“, fragte Anna verständnislos.
Mama musste lachen. „Das ist französisch und heißt Wirtshaus.“
Annas Vater deutete auf das Haus im Kalenderbild.
„So ähnlich sieht sie aus, die Auberge. Sie hat mir so gut gefallen.“
„Und dann hast du das Haus auf dem Kalenderbild gesehen …“
„Ja, und dann habe ich den Kalender gekauft. Nicht, weil ich Mama ärgern wollte. Bestimmt nicht.“
Doch darüber wollte Anna jetzt nicht sprechen. Zu spannend war die Geschichte mit dem ersten Christbaum.
„Und wie war das damals?“, fragte sie.
„Damals war das Elsass deutsch gewesen, und die Auberge war ein altes Zunfthaus mit einer gemütlichen Stube. Dort hatte man den ersten Christbaum aufgestellt.“
„Nein“, unterbrach ihn Mama. „Nicht aufgestellt. Die ersten Christbäume hatte man an den Zimmerdecken aufgehängt.“
„Hihi. Ein aufgehängter Christbaum. Wie komisch!“ Anna kicherte.
„Die ersten Christbäume hatten noch keine Kerzen“, erzählte Mama. „An ihren Zweigen hingen kleine rote Äpfel. Das waren die Christkindleäpfel. Dann gab es als Schmuck noch bunte Papierrosen, kleine Lebkuchen, Zucker und Oblaten.“
„Schön“, sagte Anna. „Auch ohne Kerzen.“
„Einmal aber hatte es im Herbst sehr früh Frost gegeben“, fuhr Papa fort, „und alle Äpfel waren an den Bäumen erfroren. Da waren die Menschen sehr traurig gewesen. Einen Christbaum ohne rote Äpfel konnten sie sich nicht vorstellen.“
„Aber dann“, fuhr Mama fort, „hatte ein Glasbläser eine Idee: Er blies kleine Glaskugeln und bemalte sie rot wie kleine Äpfel. Das waren die ersten Christbaumkugeln.“
„Da haben sich die Leute bestimmt gefreut, nicht?“
„Ja, sehr.“
„Und wann war das?“
„Och, das ist auch schon über zweihundert Jahre her.“
„Und wer hatte die Idee mit dem allerersten Christbaum?“
„Das weiß man heute nicht mehr. Er wurde zu Ehren des Christkindes aufgestellt“, sagte Mama. „Deshalb nannte man ihn auch ‚Christkindelsbaum‘.“
Papa lachte. „Und denk dir, noch immer streiten sich die Leute wegen dieses ersten Christkindelsbaums. Die einen sagen, er hätte in Schlettstadt gestanden, andere meinen, es sei in Straßburg gewesen.“
„Warum muss man immer streiten?“, fragte Anna.
Ihre Eltern schwiegen.
„Es ist spät geworden“, sagten sie und gaben Anna einen Gutenachtkuss. „Schlaf gut.“
„Gute Nacht“, sagte Anna.
Sie musste noch lange an das Elsass und den ersten Christbaum denken.
11. Ein verpatzter Adventssonntag
Anna freute sich auf das Sonntagsfrühstück. Bestimmt war nun alles wieder wie früher nach diesem gemütlichen Abend mit Mama und Papa. Eine Kerze würde auf dem Tisch stehen und nach dem Frühstück würden sie wie im letzten Jahr zum Förster gehen und Tannenzweige holen. Das würde wieder spaßig werden, wenn sie am Nachmittag den Adventskranz bastelten! Doch als Anna in die Küche kam, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen.
Zwei Adventskränze standen auf dem Tisch: einer mit roten Kerzen und Schleifen, einer mit Tannenzapfen und weißen Kerzen.
Anna war so erschrocken, dass sie gar nichts sagen konnte. Stumm deutete sie auf die beiden Adventskränze.
Mama lächelte. „Du weißt doch“, sagte sie freundlich, „dass ich im Moment so viel Stress im Geschäft habe. Zum Basteln habe ich einfach keine Zeit. Und auch keine Lust. Deshalb habe ich den Kranz für dich gekauft.“ Sie deutete auf den Kranz mit den roten Kerzen. „Der ist doch hübsch, oder?“
„Und ich“, sagte Papa, „habe auch einen Adventskranz für dich. Aus Tannenzapfen. Toll, nicht?“
Und dann kam sie, die Frage, die Anna so sehr fürchtete:
„Na, welcher Kranz gefällt dir denn besser?“
„Meiner?“, fragte Mama.
„Meiner ist schöner, ja?“, schmeichelte Papa.
„Sag, an welchem Kranz sollen wir die erste Kerze anzünden?“
„An meinem?“
“Nein, an meinem natürlich.“
„Anna, warum sagst du nichts?“
„Anna, so gib doch Antwort!“
Anna schwieg. Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals, und eine Träne tropfte über ihre Backe. Schnell wischte sie sie weg.
„Siehst du“, rief Papa, „sie weint. Kein Wunder. Du hast ja wegen deinem blöden Job überhaupt keine Zeit mehr für sie!“
„Und du?“, schimpfte Mama. „Hast du etwa noch Zeit für uns?“
„Man muss schließlich Geld verdienen.“
„Frau auch.“
„Früher war alles viel schöner“, sagte Anna leise.
Die Eltern schwiegen für einen Moment.
„Früher“, fragte Mama dann, „was heißt schon: ‚früher‘?“
Und Papa fügte hinzu: „‚Früher’, glaubt man, war alles viel schöner. Das bildet man sich nur ein.“
„Da habt ihr wenigstens nicht gestritten“, sagte Anna.
„Siehst du?“, rief Mama.
„Warum ich?“, schrie Papa. „Warum immer nur ich?“
Und schon stritten sie wieder.
„Das ist ja nicht zum Aushalten“, rief Papa auf einmal. Er nahm seine Jacke, sagte „Einen schönen Sonntag noch!“ und raste aus der Wohnung.
Mama fing an zu weinen.
Anna ging in ihr Zimmer. Sie hatte keinen Appetit mehr.
12. Was ist schon Weihnachten?
„Verflixt!“, heulte Anna.
Sie war wütend. Und vor lauter Wut vergaß sie, traurig zu sein. Sollte Mama doch in der Küche sitzen und heulen! Ja, und sollte Papa durch die Gegend fahren und vor sich hin schimpfen! Sollten sie doch! Wenn sie auch immer streiten mussten! Nein, sie hatte kein Mitleid mit ihren Eltern.
„An uns“, sagte sie zu Flöckchen, „denken die wieder einmal nicht. Den ganzen Sonntag haben sie uns vermasselt. Sie sind gemein. Und überhaupt: Auf Weihnachten habe ich nun keine Lust mehr. Was ist schon Weihnachten, wenn sich alle nur streiten?“
Verdrossen starrte sie auf die beiden Adventskalender an der Wand. Ihr war, als grinste sie der Weihnachtsbaum aus dem Glitzerschokoladenkalender hämisch an.
„Bäh!“, machte Anna und streckte die Zunge heraus. Sie mochte diesen Weihnachtsflimmer nicht mehr sehen. Als ob die Welt immer so glitzerglimmerfreundlich wäre! Blödsinn.
„Bäh!“, grunzte Anna noch einmal, und dann musste sie lachen.
Sie nahm den Kalender von der Wand und pulte die restlichen Schokostückchen hinter den Fenstern hervor. Dann rubbelte sie die Glitzerfläche ab. Eine silberhelle Wolke schwebte auf Flöckchens Kopf.
Nun hatte Flöckchen eine silberne Nase.
„Jetzt bist du ein Weihnachtshund“, sagte sie zärtlich.
Flöckchen schien sich nicht viel daraus zu machen. Er schüttelte sich und schielte auf die Schokoladenstückchen, die auf dem Tisch lagen.
„So!“, sagte Anna und hängte den Kalender an die Wand zurück. „Schluss mit dem Weihnachtsflimmer. Ätsch.“
Dann zog sie Papas Butzenscheiben-Kalenderhaus zu sich heran.
„Jetzt bist du dran“, sagte sie drohend und nahm einen schwarzen Filzstift. „Das Licht dort im Fenster unten rechts muss weg. Es macht das Bild zu hell. Ja, weg mit all dem blöden Weihnachtskram!“
Anna presste die Lippen aufeinander und machte sich ans Werk. Nichts sollte mehr an Weihnachten erinnern.
Sie wollte mit dem Kritzeln beginnen. Da fiel ihr Blick auf die Kinder im Kalenderbild, ein Mädchen und ein Junge.
„Ihr habt auch nichts zu lachen“, murmelte sie. „Ihr müsst euch so sehr mit euren schweren Körben abschleppen!“
Nachdenklich betrachtete sie die beiden. Besonders gut schien es ihnen nicht zu gehen. Ihre Schultern waren krumm vom Gewicht der Körbe. Bestimmt mussten sie viel arbeiten. Und dann ihre seltsamen Klamotten! Die sahen so altmodisch aus und arm. Es waren eigentlich gar keine Kleider, sondern dunkle Wolltücher, in die sie sich einhüllten. Und Schuhe hatten sie auch keine rechten. Sie trugen Holzschuhe. Und das bei dem vielen Schnee! Da mussten sie ja eisig kalte Füße haben!
Anna hatte Mitleid mit den beiden. Ob sie sich auf Weihnachten freuten? Und ob ihre Eltern auch immer stritten?
13. Das Licht im Fenster unten rechts
„Vielleicht wohnen sie in diesem Haus“, murmelte Anna.
Sie starrte auf das Fenster.
Das Kerzenlicht strahlte hell und warm in die dämmrige Schneelandschaft hinaus. Schön sah das aus!
Fast liebevoll betrachtete sie das Licht.
„Da in dem Haus müsste man sein“, seufzte sie, und fast beneidete sie die beiden Kinder, die zielstrebig auf das Fenster mit dem Licht zusteuerten, ein bisschen. Das Licht winkte ihnen entgegen.
Und wie es flackerte!
Es flackerte?
Anna staunte.
„Es flackert ja wirklich!“, rief sie.
Komisch. Es war doch nur ein Bild! Ein Adventskalenderbild. Was aber war mit der Kerze los? Sie sah so echt aus, als ob sie hier im Zimmer stände.
Wie gebannt sah sie auf das Licht. Sie konnte an nichts anderes mehr denken.
Was passierte ihr da?
Sie starrte und starrte, und die Kerze winkte ihr leuchtend entgegen.
Nun fing es auch noch an zu schneien. In großen, dicken, weißen Flocken.
Sie erschrak noch mehr. Wie Hilfe suchend blickte sie zu dem Licht.
Das strahlte so hell, dass es ihr schwindlig wurde. Ihr Herz klopfte. Schnell machte sie die Augen zu.
„Verrückt“, murmelte sie und fuhr sich über die Stirn. „So eine verrückte Sache.“
Anna blinzelte.
Die Kerze im Fenster flackerte noch immer. Und es schneite.
Sie begann zu frieren. Warum war ihr auf einmal so kalt? Wo war ihr Zimmer geblieben?
Ja, was war bloß geschehen?
Ängstlich sah sie sich um.
Sie saß auf dem kleinen Platz mit dem Brunnen mitten im Schnee. Und vor ihr stand das Haus mit den Butzenscheiben und dem Licht im Fenster unten rechts.
Anna begann sich zu fürchten.
„Das ist nicht wahr“, rief sie ängstlich. „Was ist passiert?“
Da spürte sie eine kalte Schnauze an ihrer Hand. Flöckchen!
„Flöckchen, du bist auch hier? Oh, wie bin ich froh!“
Erleichtert kuschelte sie sich an den Hund. „Wenn mir bloß nicht so kalt wäre!“
Sie fror erbärmlich. Sie hatte nur ihre Jeans an, das rote Sweatshirt und Turnschuhe.
Schnell waren Anna und Flöckchen pitschnass und eisig kalt. Und es schneite in einem fort weiter.
„Was sollen wir tun, Flöckchen? Ach, warum habe ich mich bloß in dieses Bild gewünscht. Ich möchte nach Hause.“
Ihre Angst wuchs. Wohin sollte sie gehen? Alles war so fremd. Schnell schloss sie die Augen und dachte an daheim. Bestimmt war alles nur ein Traum, und sie würde gleich in ihrem Zimmer aufwachen. Ja, ganz bestimmt.
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14. Mariele und Frederik
Anna strengte sich mächtig an. Sie dachte an daheim, an ihre Eltern und an ihr warmes Zimmer. Anna dachte und dachte, doch die Kälte blieb. Alles blieb. Auch die Angst.
Auf einmal hörte sie Stimmen.
Zwei Kinder kamen auf sie zu. Sie gingen mit gebeugten Schultern, schleppten schwere Körbe und waren in dunkle Wolltücher gehüllt. Ihre Nasen und Ohren waren rot vor Kälte.
Anna blinzelte. Das konnte doch nicht wahr sein!
Wirklich, es waren die beiden Kinder aus dem Kalenderbild, und sie schienen sich sehr wohl zu fühlen. Trotz der Kälte, der scheußlich altmodischen Klamotten und der Körbe. Sie redeten miteinander, scherzten und lachten.
„Die haben es gut“, dachte Anna. Ihr war zum Heulen zumute.
„Hallo“, sagte da die helle Stimme des Mädchens in einer Sprache, die sie nur mühsam verstehen konnte.
„Ha-ha-hallo“, stammelte Anna. Sie schüttelte sich. Wann würde sie endlich aus diesem Traum erwachen?
Die beiden Fremden blieben abwartend vor ihr stehen.
„Wer bisch e?“, fragte der Junge in dieser komischen Sprache.
„I-i-ch verstehe nicht.“
Der Junge gab sich Mühe.
„Wer bist du?“, fragte er noch einmal langsam und deutlich. „Und wo kommst du her?“
Da ergriff das Mädchen Annas Hand.
„Du frierst. Was hast du denn auch für komische, dünne Kleider an?“
Kritisch blickte es auf Annas Sweatshirt, die Jeans und die Turnschuhe. „Du kommst von weit her, nicht?“
Anna brachte kein Wort heraus. Doch ihre Angst verschwand.
„Ich bin das Mariele“, sagte das Mädchen.
„Und ich heiße Frederik“, stellte sich der Junge vor.
Anna nickte dankbar. „Ich bin Anna“, sagte sie leise. „Und das ist Flöckchen, mein Hund.“
Mariele und Frederik fingen an zu lachen. Kichernd deuteten sie auf Flöckchen, der mit gespreitzten Beinen im Schnee saß und wie ein nasses Riesenwollknäuel aussah.
„Das ist ein Hund?“, fragte Frederik. „Hoho! So einen Hund habe ich noch nie gesehen. Der sieht aus wie ein Schaf.“
Anna war gekränkt. „Flöckchen ist ein Hirtenhund“, brummte sie.
„Ein Hirtenhund? Bist du mit einer Herde unterwegs? Jetzt, im Winter?“
Anna schüttelte den Kopf. Was sollte sie ihnen sagen? Die Wahrheit würden sie ihr bestimmt nicht glauben. Trotzdem fühlte sie sich sicherer. Wenn es nur nicht so kalt wäre! Sie schüttelte sich wieder und klapperte mit den Zähnen.
Da nahm Mariele ihre Hand und zog sie mit sich fort.
„Komm!“, sagte sie. „Bei uns daheim ist es warm.“
„Ja“, meinte Frederik, „und dann kannst du uns erzählen, woher ihr kommt, du und dein Hirtenhund.“
„Wo wohnt ihr?“, fragte Anna.
Mariele und Frederik deuteten auf das Haus mit den Butzenscheiben.
„Hier. Kommt!“
15. Die gemütlichste Küche auf der Welt
Zögernd folgten Anna und Flöckchen den beiden Kindern, die auf das Haus mit den Butzenscheiben zugingen.
Sie konnte es immer noch nicht glauben. Träumte sie oder gab es sie wirklich, Mariele und Frederik?
Sie sind nett, dachte sie. Hoffentlich ist das nicht wieder ein Traum!
Frederik öffnete eine schmale Tür in dem großen, runden Eingangstor. Sie kamen in einen Hof.
„Da drüben“, erklärte Frederik, „ist das Kelterhaus und der Weinkeller. Und da vorne ist die Scheuer.“
Neugierig sah sich Anna um. Hübsch sah es hier aus mit dem Brunnen, den kahlen, knorrigen Weinstöcken, den von Efeu umrankten Mauern, dem Mandelbaum und den alten Gebäuden.
Ein Mann mit einer Laterne trat aus der Scheuer.
„Da seid ihr ja endlich“, sagte er. „Es wird schon dunkel. Habt ihr die Krüge mitgebracht?“
„Ja, Vater“, antwortete Frederik. „Meister Albert lässt Euch grüßen. Er hat uns auch einen ganz neuen Tonkrug mitgegeben. Er ist besonders gut für den Wein, sagt er.“
„So so“, brummte der Vater und zog Anna, die sich hinter Frederik versteckte, zu sich heran. „Und wen habt ihr uns hier noch mitgebracht?“
„Das sind Anna und Flöckchen“, stellte Frederik vor.
„Ja“, rief Mariele, „und sie kommen von weit her.“
Der Vater hob die Laterne etwas höher und leuchtete Anna ins Gesicht.
„Willkommen in unserem Haus“, sagte er freundlich.
Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich ins Haus.
Anna kam in die gemütlichste Küche auf der Welt.
Sie staunte. So eine Küche hatte sie noch nie gesehen: Holzbänke und ein langer, breiter Tisch standen in der Mitte. An den Wänden hingen Schränke und Regale mit Tellern, Bechern und Krügen. Von den dunklen Deckenbalken baumelten Kräuterbüschel und Tannenzweige. Sie wiegten sich im Schein der Kerzen und warfen Schattenbilder an die Wände. Am besten gefiel Anna die große Feuerstelle mit den Töpfen und Pfannen und dem Steinsims, auf dem Kochgeschirr stand. Über dem Feuer hingen Töpfe, unter denen die Flammen prasselten.
Die Mutter stand am Feuer und rührte in einem Topf.
Auf der Holzbank saß Oma Liese mit einem kleinen Mädchen. Sie hatte eine Pfeife im Mund, strickte und schaukelte mit den Füßen die Holzwiege, in der ein Baby schlief. Das kleine Mädchen summte leise vor sich hin und spielte mit der Wolle.
Anna seufzte. Es war wie auf einem alten Bild oder wie in dem Heimatmuseum, das sie mit ihren Eltern einmal besucht hatte.
Nein, schöner war es. Gemütlicher. Und warm war es. Kuschelig warm und hell. Kerzenleuchter standen auf dem Tisch, und auch auf dem Fensterbrett leuchtete eine Kerze.
Wie gebannt starrte Anna auf die Kerze im Fenster, und ihr Herz begann zu klopfen. Ja, da stand es. Das Licht im Butzenscheibenfenster. Und auf einmal fühlte sie sich wohl wie schon lange nicht mehr.
Aus den Töpfen über dem Feuer duftete es.
Anna merkte, dass sie hungrig war.
16. Ihr habt es gut
„Hallo!“, sagte Anna leise.
„Da sind wir wieder“, rief Frederik.
„Und das ist Anna!“, stellte Mariele vor.
„Sie ist nass und ihr ist kalt“, rief der Vater. „Gib ihr einen heißen Tee oder eine Suppe!“
„Nass und kalt?“ Die Mutter ging mit schnellen Schritten auf Anna zu, packte sie und führte sie zum Feuer.
„Armes Kind!“, murmelte sie und zog Anna die nassen Kleider aus. Ehe die sich versah, saß sie in ein warmes Tuch gehüllt mit Mariele und Frederik auf der Holzbank und schlürfte süßen heißen Tee.
„Lindenblütentee“, sagte Oma Liese, „mit Honig. Da wird euch schnell wieder warm.“
Und Anna fühlte sich warm. So warm hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt.
„Ihr habt es gut“, sagte sie ein bisschen neidisch und blickte sich um. „Es ist so schön hier.“
„Schön?“ Die Mutter lachte auf. „Wir sind nur arme Weinbauersleute. Du bist bestimmt Besseres gewohnt, da, wo du herkommst und wo man solche Kleider trägt.“
Sie strich über Annas nasse Jeans und hängte sie vorsichtig zum Trocknen auf.
„Wirklich, seltsame Kleider“, murmelte sie.
Frederik nickte. „Sag, wo kommst du denn nun her?“
„Und wo kleidet man sich so komisch?“, fragte Mariele.
Anna überlegte krampfhaft. Was sollte sie antworten?
„Man könnte meinen, du kämest aus einer fremden Welt“, meinte Frederik nachdenklich.
„Hm.“ Anna schwieg. Es stimmte. Sie lebte in einer anderen Welt. Aber wie sollte sie das erklären?
„Aus Frankfurt“, sagte sie endlich. „Wir kommen aus Frankfurt.“
„Frankfurt?“, meinte der Vater. „Das ist aber weit weg. Bist du diesen langen Weg ganz alleine gegangen?“
„N-n-nein“, stammelte Anna und deutete auf Flöckchen, der es sich vor dem Feuer gemütlich gemacht hatte und hungrig nach den duftenden Töpfen schielte.
„Flöckchen hat mich begleitet.“
„Aha“. Der Vater nickte. „Flöckchen! Hoho! Das ist ja eine Überraschung. Ein kleines Mädchen in seltsamen Kleidern und ein Hund, der wie ein Schaf aussieht. Und beide kommen sie von weither. Alleine. Mitten im Winter.“ Er schüttelte den Kopf. „Es geschehen schon merkwürdige Dinge.“
Anna musste grinsen. Ja, wirklich merkwürdig, dachte sie.
„Und warum bist du hierher gekommen?“, fragte Frederik.
Anna zuckte mit den Schultern.
„Wo bin ich hier eigentlich?“, fragte sie.
„In Schlettstadt“, erklärte der Vater. „Oder Selestat, wie es jetzt heißt. Aber …“
„Nun lasst das Mädle in Ruhe“, knurrte Oma Liese endlich. „Sie sieht müde aus.“
„Und hungrig.“ Die Mutter stellte eine große Schüssel mit Suppe auf den Tisch und drückte jedem einen Löffel und eine Scheibe Brot in die Hand. „Da, esst erst einmal! Und dann ist Zeit zum Schlafengehen.“
Anna hatte Hunger. Die Suppe schmeckte gut. Und es machte Spaß, gemeinsam aus einer Schüssel zu essen.
17. Eine merkwürdige Geschichte
„Aua“, schrie Anna und sprang aus dem Bett. „Was ist das?“
Mariele und Frederik kringelten sich vor Lachen.
„Ein Stein“, kicherte Mariele. „Nur ein heißer Stein. Zum Wärmen.“
Ein heißer Stein? Im Bett?
„Hm. Gar nicht so schlecht“, murmelte Anna und kroch wieder zu Mariele unter das dicke Strohkissen. „Kann man hier gut brauchen.“
Sie sah sich in der engen Schlafkammer um. Es gab nur zwei Betten und einen Hocker. An den Wänden hingen Kleiderhaken und ein kleines Regal. Einen Ofen entdeckte Anna nicht. Es war kalt. Lausig kalt. Anna kuschelte sich an Mariele und tastete vorsichtig mit den Füßen nach dem heißen Stein. Da sprang Flöckchen aufs Bett und rollte sich am Fußende zusammen. Jetzt war es gemütlich warm.
„Gute Nacht“, murmelte Anna und schielte zu Frederik, der mit Lotti, der kleinen Schwester, das zweite Bett teilte. Frederik lächelte und pustete die Kerze aus.
„Und nun erzähl!“, sagte er.
Und jetzt fiel es Anna überhaupt nicht mehr schwer, die ganze Geschichte zu erzählen.
„Es ist wegen dem Adventskalender“, begann sie.
„Adventskalender? Was ist das?“, fragte Mariele.
„Oh, ein hübsches Bild mit 24 Türen.“
„Und wohin führen diese Türen?“
„Zu Weihnachten?“, kicherte Anna und stellte sich vor, wie man durch die Adventskalendertüren ging und im „Weihnachtsland“ ankam. Komisch. Wirklich komisch.
Das fanden Mariele und Frederik auch.
„Alles mit dir ist irgendwie komisch“, sagte Frederik.
„Mit euch auch“, meinte Anna und seufzte. „Und deshalb erzähle ich euch eine Geschichte. Von zwei Adventskalendern und von zwei Eltern, die sich andauernd streiten.“
„Deine Eltern?“, fragte Mariele aufgeregt.
„Ja, meine Eltern. Und meine Adventskalender. Einer mit einem Glitzerweihnachtsbaum und Schokoladenstückchen …“
„Glitzerweihnachtsbaum“, wiederholte Mariele andächtig.
„Scho-ko-la-den-stückchen“, buchstabierte Frederik mühsam.
„…la…la…lade“, brabbelte Lotti.
„… und ein Adventskalender mit einem Bild von einem Haus mit Butzenscheiben und einem Kerzenlicht im Fenster unten rechts“, fuhr Anna fort.
„Unser Fenster?“, rief Mariele.
„Unser Haus ist in einem Adventskalender?“ Frederik konnte es nicht glauben.
„Ja“, sagte Anna, „und damit fängt die Geschichte an.“
Dann Anna erzählte: von daheim, von ihrer fremden Welt, von ihren Eltern, von der Schule, von doppelten Adventskalendern und Adventskränzen und von viel Traurigsein. Auch von Papas Weihnachtsland und vom ersten Christbaum in Schlettstadt sprach Anna.
Mariele, Lotti und Frederik hörten aufgeregt zu. Es war wirklich eine merkwürdige Geschichte. Und es waren auch seltsame Dinge, die sie alle dann in dieser Nacht träumten.
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18. Ein Bauch mehr wird auch noch satt
Als Anna am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie fest, dass ihr Traum gar kein Traum gewesen war. Neben ihr im Bett schnarchte Mariele leise vor sich hin. In der Kammer war es eisig kalt. Der Frost hatte die Scheiben des kleinen Fensters mit Eisblumenbildern bemalt. Frederik war schon aufgestanden. Auch Flöckchen lag nicht mehr zu ihren Füßen.
Da gibt es bestimmt irgendwo etwas zu essen. Flöckchen, dieser Vielfraß…, dachte sieund stand auf.
„Puh, ist das kalt hier.“
Sie schlang sich das Wolltuch über die Schultern und kletterte die Stiege zur Küche hinunter. Dort war es warm. Ein Feuer brannte in der Herdstelle.
Zögernd trat sie näher.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen“, begrüßte sie die Mutter freundlich. „Hier! Deine Kleider. Sie sind wieder trocken.“
„Danke“, sagte Anna leise. Sie ging zur Waschschüssel und machte Katzenwäsche. Sie schämte sich, weil alle zusahen. Schnell zog sie sich an und setzte sich zu Flöckchen, Frederik und Oma Liese an den Tisch. Dort warteten ein Becher warme Milch, Brot und Honig auf sie.
„Hm, schmeckt fein“, sagte sie und schlürfte genüsslich die Milch. Sonderbar, wo sie warme Milch doch sonst nicht mochte!
„Kann Anna eine Zeitlang bei uns bleiben?“, fragte Frederik. „Das mit Anna“, fuhr er fort, „ist nämlich eine ganz merkwürdige Geschichte.“
Die Mutter nahm Anna in die Arme.
“Bleib nur hier, Kind. Einen hungrigen Bauch mehr bekommen wir auch noch satt, nicht wahr, Oma Liese?“
„Ja ja“, murmelte Oma Liese. „Bei so einem harten Winter jagt man keinen Hund vor die Türe.“
„Und keine Anna“, sagte Anna.
An diesem Tag schwänzten Mariele und Frederik die Schule. Der Vater schickte sie wieder zu Meister Albert wegen der neuen Weinkrüge. Anna und Flöckchen begleiteten die beiden. Wie auf dem Kalenderbild trug sie nun auch ein dunkles Wolltuch und Holzschuhe. Frederik hatte die Holzschuhe mit Stroh ausgestopft. Das war prima. Sie hatte überhaupt keine kalten Füße. Und schlittern, hatte Frederik erklärt, könnte man auch gut mit Holzschuhen. Anna freute sich. Vielleicht würden sie nachher noch auf die Eisbahn gehen.
„Ist Schule schwänzen nicht schlimm?“, fragte sie unterwegs.
„Nein. Wir gehen in die Schule, wann wir wollen. Wenn es zu kalt ist, bleiben wir daheim, oder auch, wenn wir im Weinberg arbeiten müssen oder zur Zeit der Traubenlese oder wenn …“
„Und da könnt ihr einfach von der Schule wegbleiben? Ihr habt es gut. Es ist wirklich schön bei euch. Und streiten tut bei euch auch keiner.“
Sie wunderte sich, weil Mariele und Frederik laut loslachten.
„Eigentlich gehe ich lieber in die Schule als arbeiten“, sagte Mariele nachdenklich.
„Und streiten“, meinte Frederik, „tut jeder mal.“
19. Weil bald Weihnachten ist…
Auf ihrem Weg durch den Ort sah sich Anna aufmerksam um.
Wo war es denn nun, dieses Weihnachtsland, von dem Papa erzählt hatte? Sie konnte hier nichts davon entdecken.
„Bei euch sieht man gar nicht, dass Advent ist“, sagte sie.
„Woran soll man das denn sehen?“, fragte Mariele.
„Na, am Schmuck, an den Lichtern und der Reklame und …“
Dann griff sich Anna begreifend an die Stirn.
„Ach, was bin ich blöde. Das hat mit Advent ja gar nichts zu tun! Aber Tannenzweige habt ihr auch in eurer Küche hängen.“
„Ja, weil bald Weihnachten ist“, rief Mariele fröhlich.
„Wir nennen sie Weihnachtsmeien“, erklärte Frederik. „Sie schützen uns vor Gefahren.“
„Gefahren? Was für Gefahren?“
„Böse Geister und so. Die Wintergeister. Sie können nicht ins Haus kommen, wenn der Weihnachtsmeien an der Decke hängt.“
„Geister“, kicherte Anna, „gibt es nicht. So’n Quatsch.“
„Adventskalender gibt es auch nicht“, brummelte Mariele. „Ist auch Quatsch mit diesen Türen, die zu Weihnachten führen.“
„Es ist eben so Sitte“,verteidigte Anna ihre Adventskalender.
„Weihnachtsmeien sind auch Sitte“, sagte Mariele „Und an Weihnachten haben wir sogar einen Baum. In der Stube. Jawohl.“
Anna nickte. „Wir auch“, sagte sie.
„Ihr habt auch einen Tannenbaum in der Stube?“
„Ja. Wir sagen ‚Weihnachtsbaum‘ oder ‚Christbaum‘ dazu.“
“Dannebäum heißt er bei uns oder Christkindelsbaum. Wir hängen Äpfel in unseren Baum und bunte Papierrosen …“
„… und Lebkuchen“, rief Mariele begeistert. „Ihr auch?“
Anna nickte zögernd. Sie überlegte, ob sie von den Lichtern erzählen sollte. Ob Mariele und Frederik davon schon wussten?
„Wir haben auch noch Kerzenlichter“, begann sie vorsichtig.
„Wir auch. Aber die gibt es noch nicht lange“, meinte Frederik. „Als Oma Liese ein kleines Mädchen war, hat es keine Kerzen am Christkindelsbaum gegeben.“
„Aber Lebkuchen hat’s schon immer gegeben“, rief Mariele. „Und am Dreikönigstag dürfen wir den Baum pflücken und alle Lebkuchen aufessen. Hm, die schmecken fein. Und süß.“
Mariele fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen. „Darauf freue ich mich das ganze Jahr.“
„Auf den Weihnachtsbaum?“
„Ja, das auch. Aber noch mehr auf die Lebkuchen.“
„Hm.“ Anna zuckte mit den Schultern.
Was war das schon Besonderes? Süßkram gab es doch immer. Aber sie sagte es nicht. Hier war alles so anders als in ihrer Welt. Aber dass es viel schlechter war, fand Anna eigentlich nicht.
„Am St. Georgplatz steht jetzt schon ein Tannenbaum“, sagte Frederik. „Weil bald Weihnachten ist. Willst du ihn sehen?“
Anna nickte. „Aber klar.“
20. Die Sache mit den Äpfeln
Sie kamen zum St. Georgplatz. Es war ein großer Platz mit einer alten, hohen Kirche.
„Das ist die St. Georgkirche.“
„Aha.“ Anna blickte zur Turmspitze hinauf und kam sich auf einmal sehr klein vor.
„Und wo ist der Weihnachtsbaum?“, fragte sie dann.
„Da vorne. Siehst du?“
Stolz deutete Frederik auf eine schlanke Tanne am Eingang zur Kirche. Das Kirchenportal mit seinen vielen, kleinen Steinfiguren war so hoch und gewaltig, dass die Weihnachtstanne richtig klein und mickerig aussah.
Anna war enttäuscht.
„Da sind ja gar keine Lichter und Papierrosen“, maulte sie. „Nicht mal Äpfel.“
„Sie wird jetzt auch noch nicht geschmückt“, sagte Frederik. „Aber am 24. Dezember gibt es hier ein Paradiesspiel. Vor der Kirche bei der Tanne.“
„Ja“, rief Mariele, „und dann werden viele Äpfel an die Tanne gehängt. Die gehören nämlich zum Paradies.“
„Aber die Tür zur Kirche bleibt fest verschlossen.“
Paradiesspiel? Hm. Anna konnte sich nicht viel darunter vorstellen. Wieso ausgerechnet an Weihnachten?
„Gibt es denn kein Krippenspiel?“, fragte sie verwundert.
„Aber ja. Am 1. Weihnachtstag. Drinnen, in der Kirche. Das ist ganz feierlich.“
„Aber dieses Jahr wird es bestimmt nicht so schön“, meinte Mariele traurig.
„Warum nicht?“, fragte Anna. „Ihr habt doch schon eine Tanne für euer Paradiesspiel!“
Frederik nickte. „Eine Tanne haben wir, aber keine Äpfel.“
Und Mariele schüttelte bedauernd den Kopf. „Keine Äpfel. Leider. Nirgendwo gibt es Äpfel.“
„Warum nicht?“
„Sie sind erfroren.“
„Erfroren? Wieso?“
„Der Frost kam zu früh. Lange vor der Ernte.“
„Und alle Äpfel sind an den Bäumen erfroren.“
„Alle Äpfel?“ Anna konnte es nicht glauben. „Ihr irrt euch bestimmt. Äpfel gibt es doch immer. Also, bei uns …“
Sie verstummte. Hätte sie doch beinahe ihre beiden Freunde verletzt. Bloß, weil sie wieder einmal ein bisschen angeben wollte. Keine Äpfel. Wie konnte es in diesem Schlettstadt keine Äpfel geben?
„Sind Äpfel denn so wichtig?“, fragte sie kleinlaut und dachte an die vielen Äpfel, die sie angebissen und weggeworfen hatte, weil sie ihr zu sauer gewesen waren.
„Was ist schon ein Paradiesspiel ohne Äpfel?“, fragte Frederik.
„Ja“, ergänzte Mariele, „und was ist erst ein Weihnachtsbaum ohne Äpfel?“
Ihre Stimme klang sehr traurig.
21. Äpfel aus Glas
Ja, was war ein Weihnachtsbaum ohne Äpfel?
Anna fiel Papas Geschichte von den Christkindlsbäumen und den Äpfeln aus Glas ein. Klar, sie wusste doch, wie das mit den Äpfeln weiterging! Aber durfte sie davon erzählen? Die Geschichte war doch längst geschehen, lange, bevor sie, Anna, sich in das Kalenderbild hinein gewünscht hatte!
Anna begann zu grübeln. Was sollte sie tun?
„Was für ein Tag ist heute?“, fragte sie schließlich.
„Freitag. Warum?“
„Nein, ich meine der wievielte Dezember!“
„Der einundzwanzigste. In drei Tagen ist Weihnachten. Weisst du das denn nicht?“
„Na, klar doch. Aber in welchem Jahr?“
Mariele und Frederik sahen sie verwirrt an.
„1752“, antwortete Frederik dann. „Es ist das Jahr 1752.“
„1752?“ Anna staunte. War sie so viele Jahre zurückgereist?
Fast andächtig wiederholte sie die Jahreszahl.
Sie sah in die traurigen Gesichter der Freunde, die an ihren Weihnachtsbaum ohne Äpfel dachten. Und dann wusste sie, was sie tun musste.
„Warum Äpfel?“, begann sie vorsichtig. „Bei uns hängt man auch Glaskugeln an den Weihnachtsbaum.“
„Kugeln? Aus Glas?“
„Sie sehen aus wie kleine rote Äpfel.“
„Glasäpfel?“ Mariele und Frederik starrten Anna an.
„Ja“, sagte Anna. „Man kann sie kaufen. Auf dem Weihnachtsmarkt ist auch ein Glasbläser. Es macht Spaß, ihm zuzusehen.“
“Wir haben aber keinen Weihnachtsmarkt.“
„Und einen Glasbläser?“, fragte Anna. „Gibt es bei euch auch keinen Glasbläser?“
„Hm.“ Frederik und Mariele sahen sich fragend an. Die Sache mit den Äpfeln aus Glas begann ihnen zu gefallen.
„Oh“, rief Mariele, „wir müssen auch solche Glasäpfel haben.“
Sie betrachtete die Tanne am Kirchenportal. Wunderwunderschön würde sie aussehen mit vielen kleinen, roten Äpfeln aus Glas.
Auch Frederik machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Gehen wir zur Eisbahn!“, schlug er vor. „Ich habe eine Idee.“
Im Laufschritt rannten sie durch die verschneite Stadt zum Fluß. Dort liefen Kinder Schlittschuhe. Frederik packte Anna und zog sie auf das Eis hinaus. Zuerst fürchtete sich Anna. Einfach mitten auf den Fluß gehen? Mit Holzschuhen? Das war doch gefährlich! Das Schlittern auf dem Eis aber machte Spaß. Es stimmte, mit Holzschuhen konnte man wunderbar schlittern. Am liebsten hätte sie stundenlang auf dem Eis herumgetobt. Doch dazu waren sie nicht hier.
Frederik winkte die Kinder zu sich.
„Hört!“, rief er und erzählte von der Idee mit den Glasäpfeln.
Die Kinder freuten sich über diese Nachricht.
„Ja“, riefen sie durcheinander, „wir möchten auch solche Äpfel aus Glas haben.“
„Unsere Bäume werden kleine, rote Äpfel haben. Hurra!“
„Nun wird Weihnachten doch noch richtig Weihnachten!“
Anna war froh. Gut, dass sie es ihnen erzählt hatte.
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22. Der Zug der Kinder
„Es gibt hier aber keinen Glasbläser?“, sagte ein Junge.
„Doch“, rief ein anderer Junge aufgeregt. „Im Schlettstadter Wald hinter dem Hahnenberg. Da wohnt Meister Egbert. Er hat eine große Werkstatt. Ich war einmal dort mit meinem Vater.“
„Hinter dem Hahnenberg?“, rief Frederik. „Das ist aber weit.“
„Da spuken die alten Königsburger“, heulte Mariele auf. „Nein, da gehe ich nicht hin.“
Die anderen Kinder kicherten, doch sie fühlten sich auch nicht wohl in ihrer Haut. Es war ein weiter Weg über den Hahnenberg.
„Also, ich …“, sagte Frederik mit fester Stimme, „… ich gehe.“
„Ich auch“, rief Anna.
„Dann komme ich auch mit“, flüsterte Mariele zaghaft.
„Ich gehe auch.“
„Ich auch.“
„Ich auch“, riefen die Kinder.
Dann heckten sie einen Plan aus.
Am nächsten Morgen schlichen Anna, Mariele, Frederik und Flöckchen heimlich aus dem Haus. Es war noch dunkel, als sie ihren Treffpunkt, das alte Kloster, erreichten. Und kalt war es. In der Nacht hatte es geschneit. Auf den Wegen lag tiefer Schnee. Trotzdem waren viele Kinder mit ihren Schlitten gekommen. Das mit den Äpfeln hatte sich herumgesprochen.
So war es ein langer Kinderzug, der sich auf den Weg zu Meister Egbert machte. Es war mühsam, durch den Neuschnee zu stapfen, doch als es hell wurde, hatten sie das Dorf Kestenholz am Waldrand erreicht. Nun lag der hohe Hahnenberg vor ihnen. Er sah gar nicht so unheimlich aus mit seiner Schneehaube. Trotzdem murmelte Mariele immer wieder „Ich habe keine Angst“ vor sich hin.
„Geister schlafen am Tag“, beruhigte sie Frederik. „Außerdem verjagt Flöckchen alle Spukgeister.“
„Warum wohnt Meister Egbert so weit weg im Wald?“, fragte Anna, während sie den steilen Pfad bergaufwärts stiegen.
„Wegen dem Holz. Das braucht er für seinen Ofen.“
„Ja, das ist praktisch. Davon hat er ja hier im Wald genug.“
„Wenn’s nur nicht am Hahnenberg wäre!“, seufzte Mariele.
Dann schwiegen sie. Es war anstrengend, bergan durch den tiefen Schnee zu stapfen. Die Kinder schwitzten trotz der Kälte. Ihre Gesichter brannten und ihre Nasen und Ohren wurden rot und röter. Und der Weg schien kein Ende zu nehmen.
Warum habe ich mich auf diesen Plan eingelassen?, dachte Anna und hätte am liebsten vor Erschöpfung geweint.
Den anderen Kindern schien es nicht anders zu gehen. Doch es beklagte sich keiner. Sie dachten an die Äpfel und liefen und liefen und liefen …
Da knackte es plötzlich im Geäst. Unheimlich hallte es durch den stillen Winterwald.
„Ihh, der Königsburger“, schrie Mariele. „Flöckchen, hilf!“
Flöckchen starrte Anna verdutzt an. Da knackte es wieder. Es klang schon viel näher.
Die Kinder erstarrten. Ängstlich blickten sie nach allen Seiten. Oh, wären sie doch nicht …!
Und der Geist kam näher und näher. Es raschelte und knisterte und knackte in einem fort. Dann war es über ihnen.
Die Kinder duckten sich. Flöckchen aber bellte.
Zögernd blickte Anna hoch. Das war doch? Nein! Anna fing an zu lachen.
“Ein Eichhörnchen“, japste sie. „Hihi. Ein Eichhörnchen.“
Da mussten alle lachen, und erleichtert setzten sie ihren Weg fort. Dann endlich hatten sie die Bergspitze erreicht. Jetzt war es nicht mehr weit hinab ins Tal zu Meister Egbert.
23. Bei Meister Egbert
Meister Egbert staunte nicht schlecht, als die müde, hungrige Kinderschar und das schneeverkrustete Flöckchen vor seiner Tür standen.
„Wo kommt ihr her?“, fragte er mit einem strengen Blick. „Seid ihr ausgerissen?“
„E-e-es ist wegen der Äpfel“, stotterte Frederik.
„Äpfel“, sagte Meister Egbert erstaunt, „gibt es hier nicht. Hoho. Äpfel! Man stelle sich das vor!“
„Doch!“, rief eines der Kinder mit letzter Kraft. „Wir möchten Äpfel aus Glas haben. Für unsere Christkindelsbäume.“
„Äpfel aus Glas? Soso.“
Meister Egbert sah die Kinder verwundert an.
„Kommt herein“, sagte er freundlich und deutete auf einen Tisch. „Da haben wir wohl den gleichen Einfall gehabt.“
„Den gleichen Einfall?“ Neugierig starrten die Kinder auf den großen, langen Holztisch in der Werkstatt. Glasäpfel lagen da. Viele, kleine, gläserne Äpfel. Es fehlte nur noch die rote Farbe.
Die Kinder staunten.
Ja, da lagen sie, die Glaskugeln.
„Na?“, fragte Meister Egbert und nahm einen Glasapfel in die Hand. „Die wollte ich morgen in die Stadt bringen. Zur Kirche. Für euer Paradiesspiel.“
„Oh!“, sagte Frederik. „Wir danken Euch.“
Oh!, dachte Anna erleichtert. Dann habe ich doch nichts an der Geschichte kaputt gemacht. Meister Egbert ist von selbst auf die Idee gekommen. Gott sei Dank.
Meister Egbert schien sich auch zu freuen.
„Schön, dass ihr gekommen seid“, sagte er. „Und nun wärmt euch erst einmal auf!“
Und bei Tee, Brot und Suppe sahen die Kinder zu, wie die kleinen Kugeln aus Glas entstanden. Das war spannend.
„Noch mehr Holz“, befahl Meister Egbert seinem Gesellen. „Der Ofen muss so heiß brennen, dass das Glas schmelzen kann.“
Der Geselle warf ein um das andere Holzstück in das Feuer. Endlich war es soweit. Meister Egbert nahm seine lange Glasbläserpfeife und holte sich aus der heißen Glut ein Klümpchen Glaspaste. Schnell zog er die Pfeife zurück, blies hinein und wälzte das Klümpchen hin und her, bis es apfelrund wurde. Dann modellierte er vorsichtig ein Häkchen zum Aufhängen.
„Jetzt wird die Kugel noch einmal in die Hitze getaucht“, erklärte er, „und dann muss sie langsam kalt werden.“
„Das ist aber schwer!“ Die Kinder staunten.
„Nein. Man wärmt, wendet und bläst. Es ist ganz einfach.“
„Sagt, Meister Egbert“, begann Frederik stockend. „Könntet Ihr nicht ein paar Kugeln mehr machen? Für unsere Christkindelsbäume daheim. Oh, bitte!“
„Ja, bitte“, bettelten die Kinder.
„Geld haben wir aber keines“, flüsterte Mariele.
„Hm.“ Meister Egbert machte ein bedenkliches Gesicht.“Das ist aber sehr viel Arbeit. Hmhmhm! Ob wir das bis morgen schaffen? All die Kugeln hier müssen auch noch bemalt werden.“
Er überlegte. „Nun“, meinte er, dann „ihr könntet euch eure Kugeln selbst verdienen. Wenn ihr uns fleißig beim Bemalen helft, dann, ja, ddann …“, er machte eine kleine Pause, „ja, dann bekommt ihr eure Christkindelsäpfel. Einverstanden?“
„Einverstanden!“, riefen die Kinder begeistert, und am lautesten freute sich Anna.
24. O Danne, du bist ein edler Zweig
Mit Eifer machten sie sich ans Werk. Sie malten bis in den späten Abend hinein. Die Arbeit machte so viel Spaß, dass ihre Müdigkeit wie weggeblasen war. Sie malten und lachten und sangen Lieder. Von Weihnachten, von Hirten und Engeln und vom Christkindel.
Oh, es war schön bei Meister Egbert! Fast so schön wie Weihnachten.
In der Nacht schliefen sie im Stall. Auf Strohbüscheln.
„Wie die Hirten“, meinte eines der Kinder.
„Und wie Maria und Josef und das Jesuskind“, sagte Mariele.
Stimmt. Wie damals in Bethlehem. Und es war überhaupt nicht kalt in dem Stall. Nein, richtig gemütlich war es.
Eigentlich gar nicht schlecht, so ein Stall, dachte Anna und kuschelte sich an Mariele und Flöckchen.
Schnell war die Nacht vorbei, und am frühen Morgen machten sie sich auf den Heimweg. Dieses Mal ging es in einer fröhlichen Schlittenfahrt weit durch das Tal um den Hahnenberg herum. Meister Egbert und Flöckchen saßen auf dem Pferdeschlitten und zogen die lange Kinderschlittenkette hinter sich her.
Die Kinder freuten sich. Auf dem Schlitten sitzen und gemütlich durch das verschneite Land zockeln, machte Spaß.
Zuerst sangen Anna, Mariele, Frederik und ihre Freunde alle Schnee- und Weihnachtslieder, die sie kannten. Doch je mehr sie sich der Stadt näherten, desto stiller wurden sie. Was würde sie zu Hause erwarten? Ob die Eltern sehr schimpften? Schließlich waren sie einen Tag und eine Nacht weggeblieben!
„Au weia“, seufzte Frederik, „das wird Hiebe geben!“
„Oh ja“, stimmten die Freunde zu. „Und wie!“
Sie konnten sich nicht mehr so recht an der Schlittenfahrt und an ihren selbst verdienten Christkindelsäpfeln freuen, und als sie in die Stadt einfuhren, senkten sie die Köpfe. Nur nichts sehen … Nur nicht gesehen werden …
Doch sie wurden gesehen! Gleich am Stadteingang.
„Hurra!“, jubelte eine Stimme. „Sie sind wieder da. Die Kinder sind da! Dem Herrgott sei gedankt!“
Aus vielen Häusern kamen Leute gerannt. Und alle freuten sich. Hatten sie doch fast alle in der Stadt vor Kummer nicht geschlafen und stundenlang nach den Kindern gesucht!
„Hurra!“ Jubelnd folgten die Leute dem Schlittenzug zur Kirche. Dort saßen die Eltern der Ausreißer.
Sie beteten. Und sie hatten rote Augen vor lauter Weinen.
„Die Kinder sind da!“, riefen die Leute.
„Und wir haben Christkindelsäpfel mitgebracht“, riefen die Kinder. „Jetzt wird Weihnachten doch richtig Weihnachten!“
Die Kinder rannten zu ihren Eltern, und die schlossen sie ganz fest in ihre Arme.
Anna war ein bisschen traurig. Es waren keine Elternarme für sie übrig. Sie umarmte Flöckchen. Dann ging sie zur Weihnachtstanne am Kirchenportal und hängte ihre Glasäpfel in die Zweige.
Da kam Mariele zu Anna, nahm ihre Hand und begann zu singen:
„O danne! Du bist ein edler Zweig.
Du grünst Winter und die liebe Sommerzeit.
Du grünst Winter und die liebe sommerzeit.
Wenn alle Blumen dürre sein
So grünet du, edles Dannenbeumelein.
So grünet du, edles Dannenbeumelein.“
25. Na, die werden staunen
Anna war glücklich. Ja, das war Weihnachten. Oh, Weihnachten war schön!
Und Anna sang:
„Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum,
wie grün sind deine Blätter.
Du grünst nicht nur zur Sommerzeit,
nein, auch im Winter, wenn es schneit.
Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum,
wie grün sind deine Blätter.“
Sie blickte in den Baum. Schön sah er aus mit den kleinen roten Glasäpfeln. Fehlten nur noch die Kerzen. Sie stellte sich gelbe Honigkerzenlichter vor. Hell würden sie flackern und duftig und warm.
Aber was war das?
War da nicht auf einmal eine Kerze?
Anna starrte auf die Kerze. Die Kerze flackerte ruhig.
Hinter einem Fenster. Einem Butzenscheibenfenster.
Anna starrte und starrte …
Wo war der Weihnachtsbaum geblieben?
Wo waren Mariele, Frederik und all die anderen?
Ja, und wer schrie hier so laut?
„Anna, Flöckchen, hört ihr denn nicht?“
Anna schüttelte sich.
Das war doch Papa! Papas Stimme. Ja!?
„Aaaanna!“, rief die Stimme. „Flööööckchen!“
Es war wirklich Papa, und jetzt riss er die Tür auf.
„Anna, Flöckchen, seid ihr taub? Oder träumt ihr?“
„Papa, du? Ich denke …“
Da kam Papa ins Zimmer und nahm sie in die Arme.
“Was ist los, Anna? Bist du krank? Du guckst so komisch. Ich rufe schon die ganze Zeit nach dir. Warum antwortest du nicht?“
„Ru-ru-rufen?“, stotterte Anna. „Nach mir? A-a-aber ihr habt doch …“
„Tut mir leid wegen vorhin“, murmelte Papa. „Und auch wegen der beiden Adventskränze. Ich mag keinen Streit mehr. Kommt, wir gehen zum Förster. Tannenzweige holen. Wie jedes Jahr.“
„Mama auch?“, fragte Anna vorsichtig.
„Aber ja. Warum nicht?“, rief Mama und trat ins Zimmer.
Anna sah ihre Eltern unsicher an.
„Und ihr lasst euch nicht scheiden?“, fragte sie ängstlich.
Die Eltern sahen sich betroffen an. „Scheiden? Wir?“
„Na ja“, murmelte Anna. „ich dachte. Weil ihr euch doch dauernd streitet!“
Die lachten Annas Eltern, doch ihr Lachen klang auch ein bisschen ängstlich.
„Weißt du“, begann Mama, „das ist so: Papa und ich, wir …“
Und dann erzählte sie vom Stress im Büro, von ihrem Kummer wegen Oma und von ihrer Angst wegen der Wohnungskündigung.
„Da ist man manchmal schon nervös und schimpft los“, sagte Mama. „Aber wir haben uns lieb und das ist wichtig.“
„Ich hab euch auch lieb“, sagte Anna, „und Flöckchen auch.“
Da nahm Papa Anna, Mama und Flöckchen in die Arme und drückte sie fest an sich.
„Jetzt haben wir auch Elternarme, Flöckchen!“, rief Anna fröhlich.
Da freuten sich Annas Eltern.
„Wir werden das mit den Problemen schon schaffen“, meinte Papa. „Und jetzt gehen wir endlich in den Wald.“
“Und was wird aus den beiden Adventskränzen?“, fragte Anna.
„Die nehmen wir morgen mit ins Büro. Ganz einfach.“
„Ja, ganz einfach“, lachte Anna. „Gehen wir?“
„Gehen wir!“, sagten die Eltern.
„Und sieh nur!“, Mama deutete zum Fenster. „Es schneit. Der erste Schnee.“
„Ich weiß“, sagte Anna. „Es ist lausig kalt. Aber wenn wir die Schuhe mit Stroh ausstopfen und uns warme Tücher umhängen, geht das schon. Und weißt du, Papa, mit Holzschuhen kann man ganz toll schlittern …“
Und weil Papa sie ungläubig ansah, fing Anna an zu singen:
„Oh Tannenbaum,oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter…“
Anna war glücklich.
Es würde doch noch eine schöne Weihnachtszeit werden.
Und nachher, nahm sie sich vor, würde sie ihnen vom Elsass erzählen. Von Mariele und Frederik und Meister Egbert und … Na, die werden staunen!