Das erste rote Blatt

Herbstgeschichte vom Anders sein – Das erste rote Blatt im Baum … und keiner mag es leiden

 

 

Am Ende der Seite findest du diese Geschichte gekürzt und in einfacher Sprache

 

Komisch fühlte sich das Blatt im Kirschbaum oben rechts an. Ein bisschen matt, müde und durstig, aber auch hübscher irgendwie. Leuchtender. Und leichter.
“Was ist los mit mir?”, murmelte es. “Den ganzen Sommer habe ich mich nicht so eigenartig gefühlt.”
Es blickte sich in der Baumkrone um. Nichts hatte sich verändert. Frisch und grün säuselten seine Blattkollegen ihr leises Lied im Abendwind.
“Es scheint alles in Ordnung zu sein”, murmelte das Blatt.
Es war beruhigt und reckte sich ebenfalls dem Wind entgegen. Aber es gelang ihm nicht wie sonst, sich zu dehnen und zu biegen. Nein, etwas fühlte sich steif an und hart. Und zerbrechlich. Das Blatt schüttelte sich und sein Blattkleid knackte und knisterte. Bedrohlich klang das! So, als könne es gleich in viele kleine Stücke auseinander brechen.
Das Blatt erschrak. Wieder sah es zu seinen Kollegen hinüber. Nein, alles war wie immer. Verlegen winkte es ihnen einen Gruß zu.
Doch was war das? Die anderen Blätter hielten inne und starrten das Blatt an.
Dann lachten sie. “Hihi. Hoho. Hehe.”
Ihr Lachen sirrte durch den Baum. Es war so laut, dass die Blätter der anderen Bäume nach kurzem Zögern ebenfalls lachten.
Laut hallte es durch den Obstgarten. Laut und ein wenig spöttisch.
“Oho! Ein rotes Blatt weilt unter uns!”, rief eines der Blätter.
“Du gehörst nicht mehr hierher”, ergänzte ein anderes. “Du bist anders.”
“Ha!”, kreischte ein drittes Blatt. “Du bist alt und welk und bald wirst du dich nicht mehr an deinem Ast festhalten können.”
“Ja”, wusste ein viertes Blatt zu sagen. “Dann fällst du zu Boden und wirst dort verfaulen.”
Verfaulen? Vor Schreck zuckte das rote Blatt zusammen und vergaß für einen Moment, sich an seinem Zweig festzuhalten. Langsam trudelte es an seinen lachenden Kollegen vorbei und fiel ins Gras.
“Nun ist unsere Baumwelt wieder in Ordnung”, rief eines der grünen Blätter. “Nun sehen wir alle gleich aus und grün.”
“Ja, ja. So muss es sein!”, stimmten die anderen Blätter zu.
Dann schwiegen sie und es wurde wieder still im Kirschbaum. Es gab ja auch nichts mehr zu sagen.
Das rote Blatt aber war traurig.
“Ich dachte, sie sind meine Freunde und mögen mich”, murmelte es. “Aber nein! Ausgelacht haben sie mich und über mein Missgeschick gefreut haben sie sich. Oh!”
“Oh!”, hörte es da eine Kinderstimme rufen. “Oh wie schön! Da liegt das erste rote Blatt! Nun ist der Herbst da. Bald werden alle Bäume bunt sein.”
Das Kind hob das traurige Blatt auf. “Ich werde dich auf mein Herbstbild, das ich gemalt habe, kleben. Weil du das erste rote Blatt in diesem Jahr bist.”
Das Blatt freute sich. Und es wohnte noch lange in dem bunten Herbstbild, das das Kind ans Fenster gehängt hatte. Von dort sah es zu, wie seine Blattkollegen welk und gelb und rot wurden und zu Boden fielen, wo sie in den feuchten Spätherbsttagen verfaulten und wieder zu Erde wurden.

© Elke Bräunling

Diese Geschichte findest du in dem Buch:


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Das erste rote Blatt
Kurze Fassung in einfacher Sprache

Ganz oben im Kirschbaum hing ein kleines Blatt. Das fühlte sich ganz komisch. Ein bisschen müde und durstig. Aber auch schöner und leichter. Und es hatte auf einmal eine rote Farbe.
„Was ist los mit mir?“, fragte es. „Warum bin ich so anders?“
Es blickte sich in der Baumkrone um. Die anderen Blätter waren grün und frisch. 
Komisch, dachte das Blatt. Es versuchte sich zu strecken. Doch es fühlte sich steif und hart. Wenn es sich bewegte, knisterte es nun. Das machte ihm Angst.
„Was ist los?“, fragte das Blatt. „Warum bin ich auf einmal rot?“
Die anderen Blätter im Baum lachten.
„Schaut nur! Ein rotes Blatt ist unter uns!“, rief eines.
„Du gehörst nicht mehr hierher“, sagte ein anderes. „Du bist anders.“
„Du bist alt und wirst bald vom Baum fallen“, rief ein drittes.
„Und dann verfault du“, sagte ein viertes Blatt.
Das rote Blatt erschrak und ließ vor Schreck den Ast los.
Und langsam, ganz langsam fiel es an den anderen Blättern vorbei hinab ins Gras.
„Nun ist alles wieder in Ordnung“, sagten die grünen Blätter. „Wir sehen alle gleich aus – grün nämlich.“
Dann wurde es wieder still im Baum.
Das rote Blatt lag traurig im Gras.
„Ich dachte, sie sind meine Freunde“, murmelte es. „Aber sie haben mich ausgelacht. Sie sind froh, dass ich ins Gras gefallen bin.“
Doch hörte es eine Kinderstimme.
„Oh, wie schön! Das erste rote Blatt! Jetzt ist der Herbst da!“, rief das Kind.
Es hob das Blatt auf und lächelte. „Ich werde dich auf mein Herbstbild kleben, das ich gemalt habe. Du bist das erste rote Blatt! Jetzt fängt der Herbst an.“
Da freute sich das rote Blatt.
Es fand seinen neuen Platz in einem schönen bunten Herbstbild.
Später hängte das Kind das Bild ans Fenster.
Von dort blickte das rote Blatt zum Baum hinüber. Es sah, wie die anderen Blätter welk und gelb und rot wurden und zu Boden fielen. Nach einer Weile verfaulten sie dort.
Das rote Blatt blieb noch lange auf dem schönen Herbstbild. Es fühlte sich glücklich, weil es besonders war.
(1967 Zeichen)
© Elke Bräunling

 

 

 Bildquelle © 9883074/pixabay

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